Mentale Gesundheit gehört in den Mittelpunkt

Seit Jahren steigt die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund von psychischen Erkrankungen. Das bringt viele Unternehmen zunehmend in Schwierigkeiten. Dabei haben sie die Lösung häufig selbst in der Hand: weniger schweigen, mehr miteinander sprechen.

Schon beim Gedanken an den nächsten Arbeitstag spürte Alina B. (Name von der Redaktion geändert), wie sich alles in ihrer Magengegend zusammenzog. Wieder würde sie den ganzen Tag dieses Gefühl der Überforderung begleiten. Das Gefühl, zwar ständig aktiv zu sein und trotzdem nicht zu genügen. Es gab nur Anforderungen, kein Feedback. Es gab permanenten Druck, aber keine Aussicht auf Entlastung. Selbst an den Wochenenden wurde von ihr Einsatz erwartet. Sie war in einem permanenten inneren Alarmzustand. 

Dazu musste sie einen privaten Schicksalsschlag verarbeiten. Ihr Mann hatte sich das Leben genommen. „Er litt unter Depressionen. Eigentlich wollten wir mal viel reisen, haben bewusst auf Kinder verzichtet. Dann war er weg, ich fühlte mich in meinem Job nicht wertgeschätzt, und der Körper hat rebelliert“, erzählt die 43-Jährige. Sie litt unter Bauchkrämpfen, die Ärzte diagnostizierten die Darmerkrankung Morbus Crohn.  

(Zu) hohe Erwartungen 

Ein erster Schritt, um wieder Land zu sehen, war der Wechsel des Arbeitgebers. In ihrem neuen Unternehmen fühlte sich Alina B. zwar wohler, das Grundproblem aber blieb. „Auch hier gab es viele Erwartungen, aber wenig Kommunikation. Ich wurde kaum eingearbeitet, sollte aber sofort das volle Pensum absolvieren. Mein neuer Chef hatte kein Ohr für die Mitarbeiter. Wieder fühlte ich mich überfordert.“ 

Dieses Gefühl teilt Alina B. mit Millionen anderen Arbeitnehmern. Seit Jahren steigt die Zahl der Arbeitsausfälle, die auf psychische Erkrankungen zurückgehen, kontinuierlich an. Im Jahr 2022 waren es 132 Millionen Tage und damit sechs Millionen mehr als 2021. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken hervor. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Ausfälle allein durch psychische Erkrankungen lagen 2022 bei 17,2 Milliarden Euro. 

Fehlzeit: im Schnitt 36 Tage  

Laut einer Auswertung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen der Techniker Krankenkasse (TK) gehören psychische Erkrankungen zu den drei häufigsten Gründen für eine Krankschreibung. Im vergangenen Jahr betrug der Anteil am Gesamtkrankenstand rund 17,5 Prozent. Zudem fehlen Menschen mit einer psychischen Erkrankung im Schnitt 36 Tage und damit dreimal so lange wie bei anderen Erkrankungen mit einer durchschnittlichen Ausfalldauer von zwölf Tagen. 

In den kommenden Jahren wird das Problem noch dringlicher. Das geht aus der Zukunftsstudie „#whatsnext – Gesund arbeiten in der hybriden Arbeitswelt“ hervor, die das Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG) im Jahr 2022 gemeinsam mit der TK und dem „Personalmagazin“ von Haufe durchgeführt hat und an der rund 1.100 Wirtschaftsunternehmen und Einrichtungen des öffentlichen Dienstes teilgenommen haben. Bis zum Jahr 2025 halten demnach beinahe 70 Prozent der Personalverantwortlichen die Gefahr dieser Erkrankungen in ihrer Belegschaft für groß. 

Achtsamkeit reicht nicht 

Laut Gesetz stehen Unternehmen unabhängig von ihrer Betriebsgröße in der Pflicht, Arbeitsplätze auf psychische Gefahren zu untersuchen. Die Krankenkassen bieten Unternehmen schon seit Mai 2017 Hilfe und Unterstützung in ihren regionalen Koordinierungsstellen zur betrieblichen Gesundheitsförderung an. In der Realität bleiben aber immer noch zu viele Beschäftigte mit ihren Sorgen allein. 

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Zahl der Unternehmen steigt, die etwa Workshops zum Thema Achtsamkeit anbieten oder andere Angebote zur Stressreduktion wie Fitnessräume im Betrieb. „Unternehmen brauchen einen ganzheitlichen Ansatz, um dem Problem langfristig zu begegnen“, sagt Mark Hübers, wissenschaftlicher Berater vom IFBG und Leiter der „#whatsnext“-Studie. Dazu ist es erst mal hilfreich, die Gründe für den Anstieg psychischer Erkrankungen zu kennen.  

Eine Kultur der Offenheit 

„Die Arbeitswelt ändert sich rasant, die Digitalisierung schreitet voran, neue Technologien und Arbeitsmodelle stellen alte Gewissheiten infrage. Viele Menschen fühlen sich überfordert und fragen sich, ob ihre Fähigkeiten in Zukunft noch gebraucht werden“, sagt Hübers. Hinzu komme die instabile Weltlage. Während sich die Menschen noch von den Verwerfungen der Corona-Pandemie erholten, seien sie mit neuen globalen Krisen wie Kriegen oder den Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert.Wichtig sei es deshalb vor allem, miteinander zu sprechen. „Unternehmen sollten durch Mitarbeiterbefragungen regelmäßig Feedback ihrer Beschäftigten einholen, um herauszufinden, was sie beschäftigt. Diesen Ansatz verfolgt das IFBG, um die Gesundheit der Beschäftigten zielgruppenspezifisch zu unterstützen. Es sollte eine Kultur der Offenheit herrschen, in der jedem Einzelnen das Gefühl gegeben wird, dass seine Meinung zählt. Es geht also um wertschätzende Kommunikation“, sagt Hübers.  

Einbeziehen und bestärken  

Der Wissenschaftler fordert weniger Topdown-Entscheidungen ohne weitere Erklärungen, stattdessen mehr Einbeziehung und Bestärkung der Mitarbeiter. „Was hältst du davon? Hast du eine andere Idee? Gute Chefs fragen regelmäßig nach“, sagt er. „Wir wissen, dass es Menschen besonders belastet, wenn sie das Gefühl haben, keinerlei Entscheidungsspielraum zu haben.“ Zudem sollten sie vorleben, dass Arbeit nicht das ganze Leben bestimmt. „Eine Führungskraft, die ständig erreichbar ist und auch noch spätabends Chatanfragen und Mails bearbeitet, fördert damit nicht die Gesundheit der Belegschaft.“ 

Inzwischen gibt es einige Unternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, andere bei der psychischen Versorgung ihrer Mitarbeiter zu unterstützen. Eines davon ist das Berliner Startup Evermood, das Geschäftsführerin Lara von Petersdorff-Campen und Marvin Homburg im Jahr 2019 gründeten und das heute mehr als 30 Mitarbeiter beschäftigt. Evermood betreut rund 200 Firmenkunden und wurde im Jahr 2022 als HR-Startup des Jahres ausgezeichnet. „Wir verstehen uns als Work-Life-Balance-Plattform, die Angestellten rund um die Uhr ein niedrigschwelliges Angebot macht, um sie mental zu unterstützen. Wir vermitteln schnell und unkompliziert Gespräche mit Psychologen, bieten kurze Videos mit Entspannungsübungen, interaktive Workshops und bedienen dabei die komplette Bandbreite an mentalen Herausforderungen, egal ob beruflich oder privat.“ 

Frauen sind häufiger betroffen 

Evermood-Kunden zahlen eine monatliche Pauschale und ermöglichen ihren Mitarbeitern so, immer und überall auf das Angebot zugreifen zu können. „Auf Wunsch bleiben die Anfragen natürlich anonym, aber dennoch können wir Unternehmen mit unseren datenschutzkonformen Auswertungen der Anfragen wichtige Impulse liefern, wie sie sich noch verbessern können“, sagt von Petersdorff-Campen. Sie bestätigt, was andere Studien bereits belegt haben: Frauen sind häufiger betroffen als Männer, und jüngere zwischen 18 und 25 Jahren suchen häufiger Hilfe als Menschen zwischen 25 und 35 Jahren. Ihr Kernbefund deckt sich mit dem von Studienleiter Mark Hübers. „Wir brauchen viel mehr Offenheit bei dem Thema. Und es sind die Führungskräfte, die diese Atmosphäre schaffen sollten.“ 

Pionier auf diesem speziellen Gebiet der Beratung ist das Fürstenberg Institut, das die Gesundheitswissenschaftlerin Reinhild Fürstenberg vor mehr als 30 Jahren mit ihrem Mann Werner Fürstenberg in Hamburg gegründet hat und das schon damals den Ansatz verfolgte, die mentale Gesundheit der Belegschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Heute beschäftigt es rund 350 Mitarbeiter an 100 Standorten in ganz Deutschland und bietet ebenfalls umfassende und auf Wunsch anonyme Beratung bei persönlichen, gesundheitlichen und arbeitsplatzbezogenen Herausforderungen sowie bei akuten Krisen. Zudem kooperiert das Institut mit Therapeuten und Kliniken und fördert eine schnelle Therapieplatz-Vermittlung. „Leider müssen Betroffene noch immer viel zu lang auf therapeutische Hilfe warten“, sagt Reinhild Fürstenberg. 

Durch Arbeit Selbstwirksamkeit erfahren 

Dabei geht es ihr und ihrem Team darum, Arbeit trotz aller Belastungen als etwas Positives, Sinnstiftendes zu begreifen, das dem Leben Struktur gibt. „Arbeit sichert nicht nur unsere Existenz, wir erfahren dadurch Selbstwirksamkeit, das Gefühl, unser Leben aktiv zu gestalten“, sagt die zweifache Mutter. Auch die Einbindung in ein Team wirke sich positiv aus. Mentale Gesundheit sei zudem keine Einbahnstraße, die nur durch den Arbeitgeber beeinflusst werde. „Arbeit ist ein wichtiger Faktor, da wir einen großen Teil unseres Lebens mit ihr verbringen, aber wir müssen auch lernen, selbst auf gesunde Grenzen zu achten.“ 

Das war es auch, was Alina B. geholfen hat, wieder an mentaler Stärke zu gewinnen. „Meine Beraterin beim Fürstenberg Institut hat mir klargemacht, dass ich viel stärker bin, als ich dachte, und dass es wichtig ist, mein Verhalten zu spiegeln. Habe ich mich wirklich über die Kollegin geärgert oder gibt es einen anderen Grund für meine Unzufriedenheit? Sie hat meinen Blick geweitet und ich habe erkannt, dass es nicht nur auf die Bedingungen im Job ankommt, sondern auch darauf, wie ich damit umgehe. Ich habe mich wertvoller und dadurch weniger angreifbar gefühlt.“ Heute gehe es ihr viel besser. Sie habe verschiedene Entspannungstechniken kennengelernt, ernähre sich gesünder, achte mehr auf sich. Auch die Symptome ihrer Erkrankung sind deutlich zurückgegangen. Es ist immer noch nicht alles super in ihrem Job, aber sie weiß nun, dass ihr Wert nicht allein vom Lob des Chefs abhängt.

Prävention durch Kommunikation und Wertschätzung

Wissenschaftliche Studien haben Faktoren identifiziert, die großen Einfluss auf die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz haben. Wer folgende Empfehlungen berücksichtigt, kann die Belastung seiner Belegschaft deutlich reduzieren.

  • Handlungs- und Entscheidungsspielräume gewähren
  • Arbeitspensum angemessen und realistisch gestalten
  • ein wertschätzendes Miteinander – sowohl unter den Kolleginnen und Kollegen als auch mit den Führungskräften
  • Konflikte ansprechen und lösen
  • angemessene Arbeitszeiten, die eine gute Work-Life-Balance ermöglichen
  • Arbeitsplatzsicherheit bieten – soweit dies möglich ist
  • Weiterbildungen ermöglichen 


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Gesa van der Meyden
Bildnachweis: Hinterhaus Productions / Getty Images



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