Mit KI die Wunschkandidaten finden
Unternehmen kämpfen nicht nur damit, Fachkräfte zu finden, sondern auch damit, sie über längere Zeit zu halten. Im Schnitt bleiben jüngere Professionals nur noch 18 Monate bei einem Arbeitgeber. Abhilfe versprechen neue Softwaretools und Künstliche Intelligenz. Aber finden sie die Kandidaten, bei denen die Chemie stimmt?
Jeder User schreibt ein wenig von sich selbst, fügt Fotos hinzu und lädt das Ganze auf seinem Smartphone hoch. Anschließend stöbert er durch Profile, welche die Software auf Basis von KI-basierten Algorithmen vorschlägt, verteilt mit Wischen nach rechts Likes – und erhält ein Match, wenn die vorgeschlagene Person ebenfalls mit einem Like antwortet. Mit diesem simplen Konzept hat Tinder vor rund zehn Jahren den Markt für Dating Apps erobert. Jetzt will Talentbay mit einer vergleichbaren Lösung den Markt für Personal Recruiting aufmischen. „Swipe, chat and hire“: Wenn der Algorithmus die Teilnehmer – angehende Fachkräfte und potenzielle Arbeitgeber – zusammenführt, können sie sich zum Vorstellungsgespräch verabreden, so die Idee.
„Wir wollen vor allem kleinen und mittleren Unternehmen, die mit dem Fachkräftemangel besonders zu kämpfen haben, das Recruiting so einfach und effektiv wie möglich machen“, sagt Marc Irmisch-Petit, Geschäftsführer von Talentbay. Vor allem aber sollen diese Unternehmen Zugang zu High Potentials finden, die aktuell noch an Hochschulen studieren oder kurz vor dem Abschluss stehen. „Gerade die Post-Millennials sind an schnellen Job-Matches interessiert“, sagt Irmisch-Petit über die nach 2000 Geborenen, die jetzt auf den Arbeitsmarkt drängen.
„Wir wollen kleinen und mittleren Unternehmen das Recruiting so einfach wie möglich machen.“
Marc Irmisch-Petit, Talentbay
Der frühere Europachef der Jobbörse Monster weiß, wovon er spricht. Im Wettbewerb um qualifizierte Fach- und Führungskräfte drohen kleine und mittlere Unternehmen immer stärker ins Hintertreffen zu geraten. Nicht genug damit, dass sie kaum die Gehälter zahlen können, welche für Großkonzerne längst selbstverständlich sind. Viele haben ihren Sitz außerdem in ländlichen Regionen, die junge Talente nicht gerade anziehen. Sogar international bekannte Hidden Champions haben inzwischen Schwierigkeiten, ihre Stellen zu besetzen.
Großes Potenzial für Chatbots
Das liegt auch daran, dass der Mittelstand von manchem Recruitingtrend der vergangenen Jahre kaum profitiert hat. Künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning (ML) für Bewerbungsverfahren etwa sind dort noch nicht selbstverständlich, während Konzerne damit längst Anschreiben und Lebensläufe analysieren und geeignete Kandidaten herausfiltern. Die meisten arbeiten auch mit Chatbots, die Anfragen von Stellensuchenden beantworten und auswerten. „Solche Tools können Recruiting-Verfahren spürbar vereinfachen und beschleunigen“, sagt Milana Schreiber, Human-Ressources-Managerin der Hamburger Full-Service-Agentur ARTS Experts. „Allerdings macht ihr Einsatz nur Sinn, wenn KI und Machine Learning das System ständig weiterentwickeln.“ Weil kleine und mittlere Unternehmen für solche Aufgaben erfahrungsgemäß kaum Kapazitäten frei haben, müssten sie externe Partner engagieren. Das rechnet sich allerdings nur, wenn laufend Stellen besetzt werden. „Vor allem für Chatbots sehe ich im Mittelstand Potenzial“, sagt Schreiber. Fragenkataloge fürs Recruiting können mit vergleichsweise wenig Aufwand auf dem Laufenden gehalten und an neue Bewerberprofile angepasst werden.
Manch KMU begnügt sich auch nicht mehr mit Auftritten auf Monster, Stepstone und anderen Jobportalen. Sie sind längst auch auf Xing und Linkedin unterwegs. Beide Netzwerke haben ihre KI-basierten Algorithmen ständig verfeinert und können potenziell wechselwillige Mitglieder schnell aufspüren. Bei Xing sind dies mittlerweile mehr als 60 Kriterien, das Spektrum reicht von Wohnort und Alter über durchschnittliche Jobverweildauer in der Branche bis zum regelmäßigen Updaten von Profilbildern und persönlichen Angaben. Beide Plattformen bietet ihren Businessmitgliedern an, über erweiterte Suchfilter, tägliche Personalempfehlungen und interne Mailverkehre (sogenannte InMails) mit potenziellen Kandidaten direkt Kontakt aufzunehmen. Xing wirbt außerdem mit der Arbeitgeberbewertungsplattform Kununu, die viele Stellensuchende vor einer endgültigen Entscheidung anklicken. Linkedin punktet mit globalen Netzwerken, welche längst auch mittelständische Unternehmen für gezielte Kandidatenansprachen nutzen. Ein Beispiel ist Wooga in Berlin. Das Spielesoftwareunternehmen, das 250 Mitarbeiter in 40 Ländern beschäftigt, hat mit Linkedin-Hilfe ein Recruitingprogramm entwickelt, das offene Stellen ausschließlich ausgesuchten Mitgliedern präsentiert. Mit den intelligenten Algorithmen, die Linkedin bei der Suche einsetzt, kann Wooga nach eigenen Angaben sogar Nischenpositionen besetzen. „Wir haben in rund einem halben Jahr unsere Followerzahlen um rund 50 Prozent erhöht“, freut sich Carolin Streller, HR-Managerin von Wooga, über einen unvorhergesehenen Nebeneffekt. Auch das dürfte künftige Stellenbesetzungen erleichtern.
Allerdings erreichen Unternehmen über Linkedin und Xing fast ausschließlich bewährte Fachkräfte, die schon einige Zeit im Berufsleben stehen. Die Post-Millennials sind hingegen kaum vertreten. Ohnehin müssen sich Arbeitgeber auf immer schwierigere Rahmenbedingungen einstellen. „Viele jüngere Beschäftigte streben heute bereits nach 18 Monaten einen Jobwechsel an“, sagt Irmisch-Petit. Wer das nicht wünscht, sollte schon während des Recruitings auf Augenhöhe kommunizieren und mit dem Kandidaten schnell einen zwanglosen Kontakt finden. „Im Idealfall spüren Vorgesetzte und Mitarbeiter bereits am Bildschirm, dass sie sich in einem Team wohlfühlen werden“, sagt Irmisch-Petit. Das setzt ein Recruiting voraus, das nicht erst bei akutem Bedarf handelt, sondern langfristig plant und beispielsweise schon während des Studiums Kontakt mit potenziellen Kandidaten aufnimmt. Auf Lebenslauf, Anschreiben und andere bewährte Bewerbungstools kann bei einem solchen Vorgehen dann sogar verzichtet werden.
Acht von neun Kandidaten bleiben
Talentbay könnte hier wegweisend für kommende Recruitingtrends sein, wie erste Erfahrungen zeigen. Der Bettwarenhersteller Weltbett, der bislang fast ausschließlich in Handelsketten und Möbelhäusern verkaufte, hat die Belegschaft für seinen neuen Onlinevertrieb mit dieser App aufgebaut. Geschäftsführer Patrick Habertag suchte neun vielversprechende Hochschulabsolventen. Auf Talentbay formulierte er Anforderungen wie gute Englischkenntnisse oder produktaffine Studiengänge. Außerdem bot er „maximale Freiheiten“ etwas fürs Homeoffice und wünschte „hohe“ Eigenverantwortung. „Ich habe mich mit jedem Kandidaten, den der Algorithmus vorschlug, ausgetauscht“, blickt der Mittelstandsunternehmer zurück. Mit knapp fünf Prozent vereinbarte er einen persönlichen Kennlerntermin. „Von neun eingestellten Kandidaten sind acht bei uns geblieben“, zieht der Unternehmer zufrieden Bilanz. Mit dem schnellen persönlichen Kontakt habe er erfolgreich Vorbehalte gegen seine vermeintlich „verschlafene“ Branche ausgeräumt. Und auch der Standort 30 Kilometer außerhalb von Hamburg habe nicht gestört. Mit KI den persönlichen Draht zu passenden Bewerbern finden: das ist für Habertag die Erfolgsformel der Zukunft.
Auf diese Bewerbertrends müssen sich Unternehmen einstellen
- Immer mehr Kandidaten bewerben sich auf Social Media und nutzen hierfür das Smartphone. Schaffen Sie entsprechende mobile Plattformen.
- Bauen Sie in jede Ausschreibung ausgesuchte Keywords ein. Erfahrene Kandidaten gehen ohnehin von KI-gestützten Auswertungen aus und greifen die Keywords gerne auf.
- Gehalt ist nicht alles: auch Unternehmenskultur, Mental Health und neuerdings Diversity zählen – und müssen in Ausschreibungen kommuniziert werden.
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Stefan Bottler
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