Creditreform Magazin

The Trend is your friend

Erfolgreich ist, wer die Zeichen der Zeit erkennt. Doch ist es für Unternehmen alles andere als einfach, Trends rechtzeitig zu orten und gewinnbringend umzusetzen. Oder noch besser, entscheidende Trends selbst zu setzen. Immerhin: Schon eine Radtour kann erhellend sein – oder ein Brettspiel.

Neulich im Oktober, da ist Florian Kohler durch Argentinien geradelt. Die Anden rauf und runter, bis er an einen mystischen Ort kam. Im Bergdorf Colomé steht in 2.300 Metern über dem Meeresspiegel das Museum des US-amerikanischen Lichtkünstlers James Turrell. Kohler spazierte durchs weiße Foyer und durch die Katakomben. Grün, rot, lila, manchmal kalt und beklemmend, dann wieder warm und beruhigend. Ein Festival der Farben – und ein Erweckungserlebnis für den Deutschen. „Wir werden ein einzigartiges Farblabor entwickeln“, entschied der 58-Jährige aus dem Bauch heraus. Kohler ist Geschäftsführer von Gmund Papier, einer 190 Jahre alten Papierfabrik am Tegernsee mit 130 Mitarbeitern. „Auf die Idee wäre ich nie gekommen, wenn ich nicht da draußen gewesen wäre.“

Die Papierindustrie gilt nicht gerade als Trendsetter. Eher als eine Branche, die vor den Augen einer digitalisierten Welt einen langsamen Tod stirbt. In den vergangenen Jahren sind in Deutschland zahlreiche Papierhersteller pleite gegangen oder von Investoren übernommen worden. Gmund aber gehe es gut, beteuert Kohler. Im Geschäftsjahr 2017/2018 machte sein Unternehmen laut Creditreform Wirtschaftsauskunft rund eine Million Euro Gewinn nach Steuern.

Das liegt offenbar auch an der Innovationsfähigkeit der Bayern. Vor einigen Jahren schon haben sie ein Farbsystem entwickelt, mit dem Kunden ihre Karten oder Umschläge in 48 Farben bedrucken lassen und fröhlich miteinander kombinieren können. Zuletzt experimentierte Gmund im hauseigenen Design Lab mit allen erdenklichen Rohstoffen, bis endlich ein umweltfreundliches Bio-Papier aus der Maschine kam. Es besteht zur Hälfte aus schnell wachsenden Fasern, aus Blattgrün, Stroh, Baumwolle und Hanf. Ein gutes Jahr habe der Prozess gedauert. „Schnelle Innovation braucht Zeit“, sagt Kohler schelmisch.

Als passionierter Radfahrer fotografiert er leidenschaftlich ungerne wilde Müllkippen, die überall auf dem Planeten entstehen. Dass ihm das Trendthema Umweltschutz am Herzen liegt, nimmt man dem Oberbayern ab. Viel verspricht sich Kohler davon, Plastikverpackungen in Zukunft durch Papierumhüllungen zu ersetzen, für Nudeln oder Nüsse zum Beispiel. Tatsächlich sind Verpackungen das einzige Wachstumsfeld für die Papierindustrie, während die Produktion von Hygiene-, Spezial- und grafischen Papieren rückläufig ist. „Wir sind ständig draußen bei Kunden und Meinungsbildnern in der ganzen Welt“, sagt Kohler. „Unterwegs bekommt man am meisten Input für neue ­Ideen und Ansätze.“ Intuition ist beim Gmund-Geschäftsführer die Triebfeder für Innovationen.


„Wir sind ständig draußen bei Kunden und Meinungsbildnern in der ganzen Welt.“

Florian Kohler, Geschäftsführer, Gmund Papier


Innovation per Zufall

Damit gehören die Bayern vermutlich zu den zufälligen Innovatoren. So bezeichnete das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einer Studie aus dem Oktober 2019 Unternehmen, deren „Innovationsaktivitäten relativ unstrukturiert sind und die sich in einem allgemein angespannten Wettbewerbsumfeld befinden“. Auf der anderen Seite bringen zufällige Innovatoren eine „gewisse Offenheit für neue Technologien mit und durch Trial-and-Error Innovationen hervor – sozusagen glückliche Zufallstreffer“. Insgesamt 16 Prozent aller Unternehmen seien laut IW diesem Milieu zuzuordnen.

Daneben gibt es noch die „konservativen Innovatoren“, die viel in Forschung und Entwicklung investieren, sowie die „kooperativen Innovatoren“, bei denen Teamarbeit und interne Vernetzung im Vordergrund stehen. Wesentlich erfindungsreicher aber sind die „disruptiven Innovatoren“, die eine hohe Risikobereitschaft an den Tag legen und Mut zu radikalen Innovationsprojekten haben. Die Speerspitze bilden die „Technologieführer“, welche die technologische Grenze immer weiter verschieben. Am unteren Ende der Daniel-Düsentrieb-Skala rangieren im im IW-Ranking die „passiven Umsetzer“, Unternehmen, die lediglich Vorschläge von Kunden aufgreifen, sowie jene ohne Innovationsfokus.

Frische Ideen lohnen sich, das ist die Kernbotschaft der Forscher. So wiesen die Unternehmen ohne Innovationsfokus  im untersuchten Jahr 2017 eine um ein Drittel geringere Nettoumsatzrendite als der Gesamtdurchschnitt auf. Die disruptiven Innovatoren hingegen erzielten ein Drittel mehr Rendite als der Durchschnitt. Alle anderen Milieus befanden sich dazwischen. 

Wer Trends nicht frühzeitig erkennt und in innovative Produkte oder Dienstleistungen überführt, geht unter. Beispiele gibt es genug. Fotogigant Kodak sah die Digitalkamera nicht kommen, Nokia verpennte die Smartphone-Ära. Und so weiter. In Deutschland verschwand zuletzt der Kettcar-Pionier Kettler von der Bildfläche, weil er nach gängiger Expertenmeinung nicht rechtzeitig auf Mountainbikes, E-Bikes und Elektroroller gesetzt hatte. Ein weiteres Beispiel: Versandhäuser wie Quelle und Neckermann brachten den Deutschen das Wirtschaftswunder bis an die Haustür. Ihre dicken Kataloge waren jahrelang ein Faustpfand, in Zeiten des aufkommenden Online-Handels dann aber ein schwerer Ballast beim Wettlauf mit Internet-Riesen wie Ebay und Amazon.


Megatrends

Das bewegt Deutschland und die Welt

Konnektivität: Das Prinzip der Vernetzung ist einer der mächstigsten Trends der Gegenwart. Digitale Kommunikationstechnologien verändern das Leben grundlegend, lassen neue Lebensstile und Verhaltensmuster entstehen.

Neo-Ökologie: Bio-Märkte, EU-Plastikverordnung, Energiewende – der Megatrend Neo-Ökologie beeinflusst so gut wie jeden Bereich des Alltags. Von der persönlichen Kaufentscheidung bis hin zur Unternehmensstrategie.

New Work: Die Digitalisierung reduziert den Menschen aufs Menschliche – vor allem im Arbeitsleben. Wenn Maschinen mehr und mehr Tätigkeiten übernehmen, welche Aufgaben und Stärken hat dann der Mensch?

Gender Shift: Der Trend verändert Rollenmuster und Geschlechterstereotype. Immer weniger sagt die Tatsache, ob jemand als Mann oder als Frau geboren wird, etwas darüber aus, wie Biografien verlaufen.

Silver Society: Weltweit wird die Bevölkerung älter und die Zahl Älterer steigt. Gleichzeitig bleiben die Menschen länger gesund. Damit entsteht eine völlig neue Lebensphase nach dem bisher üblichen Renteneintritt.

Wissenskultur: Digitalisierung und Konnektivität verändern die Art und Weise, wie Menschen mit Informationen umgehen. Wissen verliert seinen elitären Charakter und wird zunehmend zum Gemeingut. Methodenwissen und Soft Skills werden wichtiger.

Quelle: Zukunftsinstitut


Mit wenig Budget zum Innovation Lab

Was also tun, um als Unternehmen nicht rechts und links überholt zu werden? In Deutschland sollen neue Produkte und Prozesse, Ideen und Innovationen immer häufiger in sogenannten Innovation Labs gedeihen. Die Innovationslabore sind ein ganz eigener Trend, haben sich in den vergangenen Jahren rasant vermehrt. „Die Zahlen gehen steil nach oben. Immer mehr Unternehmen versuchen das“, bestätigt Klaus-Peter Stiefel vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart. Viel Geld aufwenden muss ein Unternehmen dafür nicht. „Ein Innovation Lab kann einfach nur ein Raum sein, der anders aussieht und in dem völlig andere Regeln gelten“, sagt Stiefel. „Auch kleine und mittlere Unternehmen ohne großes Budget können das ausprobieren.“ Groß aufgezogen hat der Büroausstatter Soennecken aus Overath bei Köln sein Work Lab. Mitarbeiter können es sich auf einem Hochsitz bequem machen oder in einer Ideenschaukel, mit Lego-Steinen spielen oder beschreibbare Wände bekritzeln. Und obwohl es von allen Seiten gelobt wird, weiß man bei Soennecken selbst nicht, ob es das Work Lab in einigen Jahren überhaupt noch geben wird. „Ich denke, es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass es in Ewigkeit bestehen wird“, wird ein Mitarbeiter in einer Fraunhofer-Studie zitiert, der dem Projekt eine Lebensdauer von fünf bis zehn Jahren vorhersagt.

 

Signale von großer Bedeutung

Trends können auch ins Leere laufen, enden oder sich sogar umkehren, das ist eine wichtige Folgerung. So hat vor einigen Jahren kaum jemand die vielfältigen Probleme vorhergesehen, mit denen die Unternehmen der bejubelten Shareconomy heute konfrontiert sind, ob sie AirBnB, Uber oder WeWork heißen. Und auch das alles durchdringende Smartphone hat die Ewigkeit nicht für sich gepachtet. Die US-Amerikanerin Amy Webb prognostizierte schon Ende 2018 das „Ende des traditionellen Smartphones“. In den kommenden zehn Jahren würden andere Geräte an seine Stelle treten, die man per Stimme, Geste oder Berührung bediene.

Warum sie das glaubt? Webb ist Zukunftsforscherin und hat sogenannte Weak Signals ausgewertet. Weak Signals sind kleine Frühwarnindikatoren für große Trends. Vorzeichen, die am Anfang nur ganz schwach und vereinzelt auftauchen, die Gesellschaft aber komplett umkrempeln können. Ein Weak Signal kann ein Bild sein, ein Objekt oder Ereignis, eine Dienstleistung oder auch ein Patent. Man entdeckt sie, wenn man aufmerksam und beständig Fachzeitschriften, Forschungsberichte oder Blogs liest, sich durch die sozialen Medien arbeitet, Datenbanken durchwühlt, Radio hört oder Fernsehen schaut, mit Leuten spricht – kurzum: sehenden Auges durch die Welt geht.

Der wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission, die Gemeinsame Forschungsstelle, identifizierte im Dezember 2019 nicht weniger als 256 Weak Signals, die sich für Wissenschaft und Technologie noch als bedeutsam erweisen könnten. Dazu zählen zum Beispiel 4D-Druck oder Wearable IoT. 4D-Druck soll Produkten aus dem 3D-Drucker die Fähigkeit verleihen, ihre Form unter äußeren Bedingungen – neuen Temperatur- oder Lichtverhältnissen etwa – zu verändern. Wearable IoT bezeichnet tragbare, miteinander vernetzte Geräte mit disruptivem Potenzial für die Industrie, Finanz-, Gesundheits- oder Unterhaltungsbranche. Nur sechs Weak Signals hat das von Amy Webb gegründete Future Today Institute für 2020 herausgefiltert, unhackbare Computer zum Beispiel und computergestützte Apotheken, die nicht nur Medikamente herausgeben, sondern – gestützt auf Künstliche Intelligenz und genetische Prädispositionen – Patienten die individuell beste Therapie angedeihen lassen. Außerdem werde infolge des Siegeszuges von Smart Speakern Voice-Search-Optimization (VSO) die klassische Suchmaschinenoptimierung (SEO) als vorherrschende Disziplin ablösen – und ein ganz neues Ökosystem an Jobs und Unternehmen entstehen lassen.


„Ein Innovation Lab muss nicht viel kosten. Es kann schon ein Raum sein, in dem einfach andere Regeln gelten.“

Klaus-Peter Stiefel, Fraunhofer IAO


„Klar sind wir in zehn Jahren noch da“

Auch in Deutschland haben Trendagenturen und Zukunftsforscher Konjunktur, die den Unternehmen Arbeit abnehmen und für sie in die Zukunft schauen. Längst verkaufen sie ihnen nicht mehr nur Studien und Reports. Im Angebot haben sie Kontextanalysen, bei denen Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Oder Business Wargaming, bei denen Teams in die Rolle der Wettbewerber schlüpfen. Oder eine Strategieplanung, bei der man sich in variable Zukunftsszenarien hineinversetzt, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Das gleichnamige Zukunftsinstitut von Matthias Horx ist das vielleicht bekannteste in Deutschland. Die Futurologen setzen unter anderem auf Korrespondenten mit journalistischem Hintergrund, die in der Ferne Informationen sammeln und aufbereiten. Für Unternehmen hat das Zukunftsinstitut den sogenannten Future Circle aufgesetzt. Laut Kundenliste zählen Firmen wie Beiersdorf, Nestlé, Henkel, Rewe und Ikea dazu. Für 2.950 Euro im Jahr dürfen sie etwa die Megatrend-Map nutzen, mit der sie angeblich sehen können, wie Trends miteinander in Verbindung stehen. Eine Garantie für präzise Vorhersagen indes gibt es keine.

Im Prinzip kann aber jede Drei-Mann-Firma Trendforschung betreiben – wenn auch nicht wissenschaftlich. Das Team könnte sich beispielsweise einfach mal hinsetzen und das Brettspiel „The Thing from the Future“ durchspielen, das vom US-Futurologen Stuart Candy erdacht wurde. Aufgabe der Spieler ist es, ein hypothetisches Produkt zu erfinden: das Ding aus der Zukunft. Jeder bekommt mehrere Karten ausgehändigt. Die Karten legen die Rahmenbedingungen fest, Kontext, Ort und Zeitraum etwa. Beispiel: Wir befinden uns 30 Jahre in der Zukunft, bei dem Objekt soll es sich um ein Kleidungsstück handeln, das Freude auslösen und eine Verbindung zum Bereich der Genetik aufweisen soll. Ihre Innovationen schreiben die Mitspieler nun auf ein Kärtchen. Am Ende jeder Runde wählen die Mitspieler die besten, provokativsten und lustigsten Ideen aus. Wer die meisten Runden gewinnt, gewinnt das Spiel – und sollte vielleicht selbst mal über eine Karriere als Zukunftsforscher nachdenken.

Florian Kohler glaubt fest daran, dass seine Papierfabrik die neue Dekade übersteht. „Klar sind wir in zehn Jahren noch da. Aber nicht, weil wir schon 190 Jahre da sind, sondern weil wir ein Startup sind und morgen wieder neu anfangen.“ Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Paketboten nicht mehr länger nur braune Kartons durch die Hausflure schleppen, sondern viel mehr bunte, in den Unternehmensfarben des Absenders – am besten bedruckt natürlich von Gmunds Farbsystemen. Dann würde Gmund zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Druckerei würde erstens vom boomenden Online-Handel profitieren. Aber sie würde zweitens auch einen ganz eigenen Trend setzen. Und das ist schließlich die Königsdisziplin.


Text: Sebastian Wolking

Quelle: Magazin „Creditreform“



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