Die Neuordnung der Globalisierung
Corona-Pandemie, Chipmangel und nun der Krieg in der Ukraine. Durch externe Schocks kommt es in vielen Branchen zu Lieferengpässen. Als Reaktion darauf steigern Unternehmen die Anzahl ihrer Lieferanten – oder holen die Produktion ganz zurück in ihre Heimatregion.
Unser Hauptproblem sind die katastrophalen Lieferengpässe. Dagegen ist alles andere marginal“, sagt Jörg Buchgeister, Geschäftsführer des Mittelständlers atb Elektronische Steuerungen in Menden. Sein Unternehmen stellt Steuerungs- und Schaltschränke her. „Wir bekommen kein Material und können daher unsere Aufträge nicht abarbeiten.“ Kunden müssen aktuell rund sieben Monate auf einen neuen Schaltschrank warten.
Ein Problem, das derzeit viele Unternehmen haben. 64 Prozent der Firmen in Deutschland suchen nach neuen und zusätzlichen Lieferanten, so das Ergebnis einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. Rund 57 Prozent möchten ihre Lagerhaltung erhöhen, um sich vor Engpässen bei ihren Lieferanten zu schützen.
Erst die Corona-Pandemie, dann ein eklatanter Mangel an Mikrochips und nun der Krieg in der Ukraine: Ausfälle in den Lieferketten häufen sich. Und Unternehmen reagieren darauf. Schon seit einiger Zeit ist von einer „Deglobalisierung“ die Rede. Begriffe wie „Nearshoring“ oder „Reshoring“ machen die Runde. Gemeint ist der Aufbau möglichst nah beieinander liegender und über nur wenige Landesgrenzen verlaufender Produktions- und Lieferketten. Es ist ein Prozess, der gerade erst beginnt und Jahre dauern wird. Ein Thema, mit dem sich Unternehmen auseinandersetzen sollten.
Zwei Kernbranchen trifft es besonders
In Deutschland sind aktuell vor allem die Automobilindustrie und der Maschinenbau betroffen. BMW stoppte Anfang März die Produktion in und den Export nach Russland. Siemens stellte sein Neugeschäft in Russland ein, Daimler Trucks und VW legten ebenfalls die dortige Produktion auf Eis. Und weil auch Zulieferer nun einzelne Teile nicht rechtzeitig liefern können, mussten die Hersteller ihre Produktion in Deutschland ebenfalls drosseln.
„Vielfach werden zusätzliche Lieferanten qualifiziert, die ihren Sitz in Europa haben.“
Thibault Pucken, Inverto
Auch der deutsche Mittelstand reagiert auf die Lieferengpässe. Schon die seit zwei Jahren anhaltende Corona-Krise hat bei vielen Unternehmen zu einem Umdenken geführt. Diversifikation der Lieferanten ist angesagt. Nur wenige Unternehmen verlassen sich nur noch auf einen Lieferanten, wie es vor Corona durchaus üblich war. Stattdessen beginnen sie damit, ihre Lieferketten breiter aufzustellen. „Vielfach ist es allerdings nicht die vollständige Rückverlagerung aus Asien nach Europa, sondern es werden zusätzliche Lieferanten qualifiziert, die dann ihren Sitz in Europa haben und hier produzieren“, erklärt Thibault Pucken, Experte für Supply Chain Management und Managing Director bei der Unternehmensberatung Inverto.
Eine Rückverlagerung um jeden Preis sei vielfach auch gar nicht möglich, wie Prof. Götz-Andreas Kemmner, geschäftsführender Gesellschafter der Abels und Kemmner Gesellschaft für Unternehmensberatung, berichtet: „Bei bestimmten Technologien und Produktclustern fehlt in Europa inzwischen auch die Basisinfrastruktur, sodass quasi Industrien rückverlagert werden müssten und nicht nur einzelne Güter.“ Grundsätzlich beobachtet er, dass die Beschaffung eines Produkts auf mehrere Lieferanten und Regionen verteilt wird. Dabei gehe es, so Pucken, vor allem darum, flexibler zu werden, die Lieferkette breiter aufzustellen und die Wahrscheinlichkeit von Ausfällen zu reduzieren. Damit verbunden ist aber auch ein größerer Aufwand: Denn wer mehrere Lieferanten hat, muss alle Beteiligten koordinieren und aufeinander abstimmen. Deswegen entwickeln viele Unternehmen ein strategisches und digitales Risikomanagement. Dabei handelt es sich um ein Warnsystem, das Lieferprobleme früh aufzeigt.
„Bei unseren Kunden und in den Gesprächen mit zahlreichen Unternehmen habe ich bisher nur erste Ansätze substanzieller Rückverlagerungen beobachten können“, berichtet Unternehmensberater Kemmner. Es ist vor allen Dingen die Politik, die in zentralen Schlüsselbranchen mehr Unabhängigkeit erreichen will. Auch das ist eine Konsequenz aus der Corona-Pandemie, als wichtige pharmazeutische Produkte wie Masken oder Reagenzgläser nicht in ausreichender Menge in Europa hergestellt werden konnten. „Vor Corona hätte man gar nicht erst in Europa nachgefragt, weil man davon ausgegangen wäre, dass diese Produkte nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen zu bekommen sind“, sagt Pucken.
Rückverlagerung nicht um jeden Preis
Volkswirtschaftlich wichtige Bereiche sind auch die Batteriefertigung für die Automobilindustrie und die Chipfertigung. „Dabei dürfte es allerdings weniger um Fragen der Kostensicherung oder der Absicherung gegen technisch-organisatorische Unterbrechungen der Lieferkette gehen, als vielmehr um strategische Fragen der Versorgungssicherheit bei Schlüsselgütern im Falle internationaler Spannungen“, sagt Kemmner. So fördert die EU aktuell insgesamt 42 Unternehmen aus zwölf Mitgliedstaaten mit dem Ziel, eine wettbewerbsfähige, innovative und nachhaltige Batterie-Wertschöpfungskette in Deutschland und Europa aufzubauen.
Die Unternehmensberatung McKinsey hält es für möglich, dass in den kommenden Jahren ein Viertel der weltweiten Liefer- und Warenströme verlagert werden könnte – im Gegenwert von 4,6 Billionen Dollar pro Jahr. „Ob es tatsächlich dazu kommt, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab“, sagt McKinsey-Partner Knut Alicke. Etwa von den tatsächlichen Kosten für die Verlagerung der Produktion, aber auch von der Verfügbarkeit von Arbeitskräften sowie von Umfang, Komplexität und Verflechtung der existierenden Lieferketten.
Wie aus einer Studie des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung hervorgeht, setzen große Unternehmen vor allem auf eine größere Anzahl von Zulieferern, während kleinere und mittelständische Unternehmen zunächst ihre Lagerhaltung erhöhen. „Bei einer kompletten Rückverlagerung könnte die reale Wirtschaftsleistung Deutschlands um fast zehn Prozent zurückgehen“, warnt Lisandra Flach, Leiterin des ifo Zentrums für Außenwirtschaft.
Denn die Rückverlagerung der Produktion nach Europa bringt einen entscheidenden Faktor mit sich: Ohne technischen Fortschritt führt sie zu höheren Produktionskosten – und damit zu höheren Preisen und einer schlechteren Wettbewerbsfähigkeit. „Nicht zuletzt aus diesem Grund waren die Unternehmen in Europa in der Vergangenheit eher zurückhaltend mit Rückverlagerungen. So haben in Deutschland zwischen 2010 und 2012 nur zwei Prozent der Unternehmen des produzierenden Gewerbes Teile der Produktion zurückgeholt, von 2013 bis 2015 waren es mit drei Prozent etwas mehr“, zählt der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft auf.
Die aus deutscher Sicht wichtigste Rolle, so die ifo-Studie, spielen ohnehin Wertschöpfungsketten innerhalb der EU. Hier sorgen der gemeinsame Binnenmarkt und ein hohes Maß an sozialer und politischer Stabilität für zuverlässige Lieferketten – die aber auch nicht vor externen Einflüssen gefeit sind, wie die Sanktionen gegen Russland nun zeigen. „Resilienz“, also die Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens auch in Krisensituationen, sei deshalb mehr als ein neues Modewort, betont McKinsey-Berater Alicke. Dabei gehe es für Unternehmen nicht mehr nur darum, ihre Waren möglichst effizient herzustellen. „Unternehmen müssen ein neues Gleichgewicht finden, zwischen Just-in-Time-Produktion mit möglichst schlanken Lieferketten und minimalen Lagerbeständen und langfristiger Widerstandsfähigkeit.“
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Dirk Wohleb
Fokus Russland
Der Anteil Russlands am deutschen Außenhandel beträgt für das Jahr 2021 laut Statistischem Bundesamt zwar nur 2,3 Prozent. Doch weitere Zahlen zeigen, in welchen Bereichen der Krieg in der Ukraine und die von der EU verhängten Sanktionen deutsche Unternehmen betreffen:
Top-Importgüter aus Russland in Mrd. Euro
- Erdöl/Erdgas: 19,4
- Metalle: 4,5
- Mineralöl- und Kokereierzeugnisse: 2,8
Top-Exportgüter nach Russland in Mrd. Euro
- Maschinen: 5,8
- Kfz und -Teile: 4,4
- chemische Erzeugnisse: 3,0
Quelle: Destatis