Erinnerungen werden wach
Die große Finanzkrise vor über zehn Jahren hatte ihren Ausgangspunkt im amerikanischen Immobiliensektor. Kredite für den Hauskauf waren gebündelt und weiterverkauft worden. Als der Häusermarkt einbrach, brach auch die Werthaltigkeit dieser Kredite ein. Die Folgen waren weltweit zu spüren, auch in Europa gerieten ganze Volkswirtschaften wie in Griechenland ins Trudeln.
Ins Rollen gebracht hatte die weltweiten Verwerfungen die Pleite des Bankhauses Lehman. Im Sommer dieses Jahres war es wieder der Immobilienbereich, der für Ängste sorgte. Diesmal war es China und der Evergrande Immobilienkonzern, dessen Schieflage Befürchtungen auslöste, dass die Schockwellen über China hinaus weltweit zu spüren sein würden. Immer wieder wurde betont „Evergrande ist nicht Lehman“, aber gerade diese Beschwichtigungen sorgten für Unruhe.
Schuldenberge
Viel Geld steht auf dem Spiel, belaufen sich doch die Schulden von Evergrande auf mehr als 300 Mrd. Dollar, eine Summe, die der Wirtschaftsleistung Finnlands entspricht. Es sind vor allem die großen chinesischen Banken, ICBC, Industrial & Commercial Bank of China und die Agricultural Bank of China, die betroffen sind. Aber auch europäische Häuser, Anleihegläubiger und Private, die Vorauszahlungen geleistet haben, hoffen darauf, dass die Schulden beglichen werden. Die Aktie des größten chinesischen Immobilienentwicklers war seit Jahresbeginn um über 80 Prozent eingebrochen. Der Börsenwert lag nur noch bei 4,7 Mrd. Dollar. Dabei waren es nicht nur die Börsen in Shanghai und Hongkong, die die markanten Rückgänge markierten, Auswirkungen waren bis nach Europa und den USA an den Finanzplätzen zu spüren. Aktuell scheint sich die Situation wieder ein wenig beruhigt zu haben, die Titel von Evergrande stiegen wieder an. Jetzt besteht Hoffnung nicht nur bei den Investoren, sondern auch bei denen, die ihr Geld in Wohnprojekte in China gesteckt haben und nun um ihre Immobilie und in manchen Fällen auch um ihre Altersversorgung gebangt hatten.
Kometenhafter Aufstieg
Das Unternehmen war 1996 in der Provinz Chinas gegründet worden, bevor man später nach Shenzhen umgezogen ist. Die Entwicklung des Immobilienriesen war rasant, bereits 2017 wurde der Gründer zum reichsten Chinesen gekürt. 2009 war Evergrande in Hongkong an die Börse gegangen und hatte auch hier eine Erfolgsstory geschrieben. Evergrande ist in allen chinesischen Städten mit dem Bau von Immobilien vertreten. Darüber hinaus hat der Konzern seine Geschäfte diversifiziert. Dabei machte vor allem die Gründung einer Autofirma für E-Automobile von sich reden. Negativ: Alleine im ersten Halbjahr 2021 betrug der Verlust in diesem Sektor rund 630 Mio. Euro.
Werden sich die Märkte beruhigen, wird der Immobilienkonzern zur Ruhe kommen und sich konsolidieren? Alle blicken nun auf die chinesische Regierung und ihr Eingreifen. Dies ist nicht nur deshalb wichtig, weil für viele Bürger das Wohl und Wehe an einer Fortsetzung der Bautätigkeit hängt. Nach Schätzungen sind 1,2 Millionen Bürger mit ihren Immobilien betroffen – hinzu kommen über 160.000 Arbeitskräfte des Konzerns. Der chinesische Immobilienmarkt im Ganzen wäre bei einer Pleite betroffen, der Boom würde erschüttert, das Vertrauen in den Markt könnte verloren gehen. Auch deshalb hat Chinas Regierung bereits gehandelt und etwa 15 Mrd. zur Verfügung gestellt – und dies war nicht die erste Finanzspritze. Zunächst konnte Evergrande erste Zinszahlungen leisten, mittlerweile hat der Konzern aber mehrere Fristen für fällige Zinszahlungen Anleihegläubiger verstreichen lassen. Bei den Spekulationen über die Form und das Ausmaß staatlichen Eingreifens in China ist immer zu bedenken, dass das Land von einer kommunistischen Regierung beherrscht wird. Alle marktwirtschaftlichen Veränderungen des Landes haben doch nicht dazu geführt, dass die Partei ihre Macht abgegeben hätte. Im Gegenteil hatten die Zerschlagung großer Konzerne oder die Drohung damit dafür gesorgt, dass niemand vergisst, wer in China das Sagen hat. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das Handeln der Kommunistischen Partei zu sehen. Einerseits sind zu viele Menschen beteiligt, als dass man den Konzern in die Insolvenz gehen lassen könnte. Auf der anderen Seite ist die Partei mit den enormen Mietsteigerungen in den Metropolen ebenso wenig einverstanden wie mit der persönlichen Konzentration von so viel Geld in der Hand einzelner Bürger. So fürchten manche, dass Peking mit dem Scheitern des Immobilien-Hauses einen Präzedenzfall schaffen könnte, um den Übermut der Branche in die Schranken zu weisen. Wahrscheinlich wird die Regierung einen Mittelweg gehen und die Projekte ordnen sowie koordinieren – es heißt, dass den örtlichen Behörden bereits Gelder zur Verfügung gestellt worden sind –, andererseits aber auch – möglicherweise sogar im Zug einer geordneten Insolvenz – auf den Verkauf von Unternehmensteilen drängen und bis zur Zerschlagung gehen.
Gleich drei rote Linien
Der chinesische Immobilienmarkt bekommt jedenfalls neue Finanzvorschriften. Die Rede ist von den „drei roten Linien“. Damit wird das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten definiert: Schulden dürfen nicht mehr als 70 Prozent betragen. Der Nettoverschuldungsgrad darf nicht über 100 Prozent liegen und das Verhältnis von liquiden Mitteln zu kurzfristigen Verbindlichkeiten darf nicht höher als Faktor Eins liegen. Angesichts der Verschuldungssituation mancher Unternehmen und Länder auch außerhalb Chinas ist das eine Messlatte, die auch andernorts für Stabilität sorgen würde.
Quellen: verschiedene Tagesmedien, Creditreform International