Künstliche Intelligenz im Büro – oder: Arbeiten im Übermorgenland
In Computerspielen steckt sie schon länger, im Marketing arbeitet man mit ihr, Mediziner verlassen sich auf sie. Peu à peu bahnt sich Künstliche Intelligenz ihren Weg in immer neue Arbeitswelten. Auch Sachbearbeiter können sich mit artifizieller Hilfe lästige Routinearbeiten vom Hals schaffen und Skaleneffekte für ihren Arbeitgeber herbeiführen. Sogar ein freier Tag pro Woche ist drin.
Christian Gruber hat jetzt einen Butler. Früher musste Gruber nacheinander bis zu sieben Softwaresysteme öffnen, um alle Informationen über ein Grundstück zusammenzusuchen. Ort, Lage, Größe, Buchwert, Verkehrswert. Überall neu einloggen, Passwörter eingeben, Ordner und Dateien durchforsten. Eine freudlose Fleißarbeit. Jetzt lässt Gruber suchen. Er öffnet eine Webanwendung in seinem Browser und tippt einfach das Flurstück oder die Gemarkung ein, alle Daten werden ihm daraufhin auf dem Silbertablett serviert. Es ist wie Googeln, nur eben in den Untiefen der unternehmenseigenen Bestandssysteme und Datensilos – und die können tief sein.
Gruber ist Spezial-Referent IT-Facharchitektur Immobilien bei der Envia Mitteldeutsche Energie AG (Enviam), einem Energieversorger mit Sitz in Chemnitz, der nach eigenen Angaben 1,3 Millionen Menschen in Ostdeutschland mit Strom und Gas versorgt. Seit 2017 experimentiert Projektleiter Gruber mit einer KI namens Comem. Die Abkürzung steht für Corporate Memory. Entwickelt wird sie vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern. Der ganze KI-Werkzeugkasten kommt dabei zum Einsatz, Robotic Process Automation, Mustererkennung, Deep Learning. Die Laufzeit des Projekts ist bis 2038 angesetzt. Ein Langzeitvorhaben, das in die Übermorgenwelt hineinreicht. In den Büros von Enviam hat es schon heute spürbare Auswirkungen.
Informationsbutler hilft bei der Suche nach Informationen
Der Energieversorger ist der Projektpartner vom DFKI und prüft den smarten Helfer in seiner Liegenschaftsverwaltung und Kommunalbetreuung auf Alltagstauglichkeit. Gruber testet an seinem Arbeitsplatz auch eine Sidebar, die neben seinem Outlook-Posteingang erscheint. Eingehende E-Mails analysiert die KI per Texterkennung auf Stichwörter. Taucht ein Name oder die Nummer eines Flurstücks in einem E-Mail-Text auf, blinken nebenan in der Sidebar weiterführende Informationen auf. Comem verknüpft interne Quellen, aggregiert sie, reichert sie an, stellt sie übersichtlich zusammen und macht Vorschläge für den nächsten Arbeitsschritt. „Der Informationsbutler hilft uns bei der Suche nach verteilten Informationen“, sagt Gruber. „Ich will nicht lange suchen, ich will gleich finden.“
Davon versprechen sich alle Beteiligten Effizienzgewinne. Gruber bestätigt: „Die KI macht unseren Arbeitstag produktiver.“ Um einen Meldungsreport zu erstellen, in dem der Energieversorger technische Regelungen für Partnerunternehmen und Stadtwerke zusammenfasst, hätten die Kollegen früher eine ganze Woche gebraucht. Mit der KI im Rücken war der Report nach eineinhalb Stunden fertig.
„Die KI macht unseren Arbeitstag produktiver.“
Christian Gruber, Enviam
Dass Künstliche Intelligenz kein theoretisches Konzept mehr ist, ahnt jeder, der sich regelmäßig von Amazon neue Waffeleisen und Kurzhanteln, von Netflix frische Comedyserien und von Xing vakante Stellen vorschlagen lässt, der sich am Bildschirm mit Chatbots unterhält und den Pizzafahrer minutengenau auf der Karte verfolgt. Aber KI im Büro? Das klingt für viele noch immer nach Zukunftsmusik.
Dabei ist Artificial Intelligence laut US-Marktforschungsunternehmen Gartner drauf und dran, die von überhöhten Erwartungen geprägte Hype-Phase zu durchschreiten. „AI beginnt, ihr Potenzial auszuschöpfen. Ihre Vorteile werden für Unternehmen zur Realität“, sagte Gartner-Analystin Svetlana Sicular schon vor einigen Monaten. Sogar die klassische Sachbearbeitung stehe vor einem Paradigmenwechsel, schreibt das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in einem Report. Nicht länger kann die KI nur Routinetätigkeiten ersetzen, sondern zunehmend auch komplexere Aufgaben. Sie kann Sachverhalte analysieren, prüfen, einordnen und kontrollieren.
Optical Character Recognition: „Besser als das menschliche Auge“
Optical Character Recognition (OCR), moderne Texterkennung, erkennt Texte und Zeichen auf Scans und Fotos, zum Beispiel auf Rechnungen. „Je höher die Erkennungsrate des Textes ist, umso mehr lässt sich die automatisierte Buchhaltung im Unternehmen verbessern“, sagt Produktmanager und Strategist Frank Seboldt vom Münchener Softwarehaus CIB. Jede ins System hochgeladene Rechnung trainiert die Künstliche Intelligenz und macht sie besser.
Dafür sorgen künstliche neuronale Netzwerke. „Ein künstliches neuronales Netzwerk kann man sich wie einen Entscheidungsbaum vorstellen“, erklärt Seboldt. „Man wirft oben eine Kugel hinein. Es gibt viele Abzweigungen und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit landet sie unten an der richtigen Stelle. Je häufiger ich das mache, desto genauer wird das Ergebnis.“ Herkömmliche Texterkennungsprogramme arbeiten dagegen mit programmierten Algorithmen. Sie sind gut, aber nicht lernfähig. „Zahlen und zweideutige Zeichen werden deutlich besser erkannt als von herkömmlichen Algorithmen“, sagt Seboldt. Mit der Zeit ist es so kein Problem mehr, den Buchstaben O von der Ziffer 0 zu unterscheiden – ein kleines Detail mit potenziell riesigen Auswirkungen. Sein Arbeitgeber hat ein 20 Mitarbeiter starkes KI-Team aufgebaut, insgesamt rund 20 KI-Projekte in der Pipeline, darunter das OCR-Tool CIB Deeper, das in Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS entstand und vom Bund gefördert wurde. „Wir glauben, dass die KI in absehbarer Zukunft besser ist als das menschliche Auge“, sagt Seboldt. „Man benötigt große Datenmengen, um die KI zu trainieren. Das ist vielen nicht bewusst.“ Sie ist wie ein hungriger Löwe, muss gut gefüttert werden, dann wird sie richtig stark und kraftvoll.
5,4 Milliarden Spielvarianten trainierte Googles Computerprogramm AlphaGo, bevor es Profispieler aus Fleisch und Blut im chinesischen Brettspiel Go schlagen konnte. Ein Mensch hätte dafür seit Jesu Geburt trainieren müssen, mehr als 2.000 Jahre lang.
Verstehen steigert die Akzeptanz
Die gute Nachricht: In vielen Betrieben hat die Digitalisierung in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Immer mehr Unternehmen sind jetzt bereit für digitale und dressierte Helfer. Trotzdem haben sich nach einer Fraunhofer-Studie 25 Prozent der mittelständischen Unternehmen noch gar nicht mit der Thematik der Künstlichen Intelligenz befasst. Erst 16 Prozent haben eine solche im Einsatz. Eine Studie vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Noch zu oft ist KI eine Blackbox. Niemand weiß, was im Innern vor sich geht. Und was hinten rauskommt, ist nur schwer nachvollziehbar.
Wenn Unternehmen die Entscheidungen, die ihnen die KI vorgeschlagen hat, verstehen und nachvollziehen können, steige auch ihre Akzeptanz, glaubt Frank Seboldt. In Zukunft werde das möglich sein.
Gleichzeitig weckt die Technologie Verlustängste. In der Sachbearbeitung ist „mit einer Vollautomatisierung nicht zu rechnen“, beruhigt das Fraunhofer-Institut. Menschen müssten sich auch weiterhin ihre eigenen Gedanken machen, die KI überwachen und deren Ideen bisweilen verwerfen. „Comem trifft keine Entscheidungen, sondern macht lediglich Vorschläge“, sagt auch Christian Gruber. „KI kann sehr gut sein, sie ist aber auch fehleranfällig.“ So würde sie ständig das Städtchen Auerbach im Vogtland mit Enviam-Vertriebsvorstand Andreas Auerbach verwechseln – ein Running Gag in der Kaffeeküche des Energieversorgers. IBMs Supercomputer Watson wurde 2018 in der Krebstherapie eingesetzt und gab falsche Handlungsanweisungen. Ohne menschliche Aufsicht hätten diese fatale Folgen gehabt. „Manche Kollegen sind richtig aufgeblüht, als sie gemerkt haben, dass KI ihnen nicht die Arbeit wegnimmt, sondern sie unterstützt“, erinnert sich Gruber. „Es sind Freiräume entstanden, aber die Arbeit geht uns deswegen noch lange nicht aus.“
Und auch in München bei CIB Software scheint die Sonne in letzter Zeit noch heller. „Die KI ist ein Werkzeug, kein Selbstzweck. Sie dient dazu, die Prozesse effektiver und schneller zu machen“, sagt Seboldt. In seinem Hause hat man das bereits umgesetzt, die Künstliche Intelligenz dazu gebracht, Arbeitszeit freizuschaufeln. Im September hat das Unternehmen für alle Mitarbeiter die Vier-Tage-Woche eingeführt.
Was kann KI?
Drei beispielhafte Anwendungsmöglichkeiten für Künstliche Intelligenz im Überblick:
Den Absatz besser vorhersagen
Das Startup Meteolytix aus Kiel bietet ein KI-Tool an, das beispielsweise den Bedarf für Bäckereien an Brot und Teilchen für den nächsten Tag punktgenau prognostizieren soll. So sollen Produktion und Personaleinsatz in der Backstube optimiert und Überschüsse vermieden werden. Rund 400 Parameter fließen in die Berechnungen ein, darunter Feiertage, Ferienzeiten, Straßensperrungen und das Wetter. Bäcker schicken jeden Tag ihre verfügbaren Daten nach Kiel, die Datenexperten schicken innerhalb einer Stunde ihre Analyse zurück, auf dem der errechnete Bestellvorschlag für jeden einzelnen Artikel vermerkt ist. Die Erfahrungen sind gemischt. Von zwei Bäckereien, mit denen das Creditreform-Magazin gesprochen hat, nutzt eine das KI-Tool seit längerer Zeit. Die andere hat das Projekt wegen Erfolglosigkeit beendet.
Eine Corona-Ausbreitung verhindern
Ein Social-Distancing-Tool erdachte das britische Software-Startup dRisk, das sich eigentlich dem autonomen Fahren verschrieben hat. Zugute kommen den Softwareexperten dabei die unzähligen Videokameras, die im Auftrag der Londoner Verkehrsbehörde TfL über die Straßen der Metropole wachen. Mithilfe von Objekterkennungstechnologie berechnet das Startup, ob es Fußgängern gegenwärtig möglich ist, ausreichend Abstand zu wahren. Wer wissen will, wie groß die Menschenansammlung in der Regent Street oder am Trafalgar Square ist, schaut kurz auf die Karte – grün steht für frei, rot für überfüllt – und geht einer Infektion so vorausschauend aus dem Weg.
Rechtzeitig für Nachschub sorgen
Vor rund zwei Jahren eröffnete das Schweizer Unternehmen Selecta den ersten sogenannten Micromarkt in Deutschland, im Raum Frankfurt. In einem Bürogebäude stehen nun mehrere Kühlschränke mit Cola und Kaffee, kalten, heißen, frischen und haltbaren Speisen. Wie ein kleiner Supermarkt im Miniaturformat, nur ohne Kassierer, aber mit bargeldloser Bezahlung. Mittlerweile gibt es drei Micromärkte in Deutschland, die Nachfrage sei aber riesig, heißt es von Selecta. Überwacht werden die Automaten in Echtzeit – und bei Bedarf sofort nachgefüllt. Durch Telemetrie, also sensorgestützte Datenfernübertragung, sehen die Mitarbeiter in der Zentrale auf einem großen Dashboard jederzeit, in welchem Automaten wie viele Joghurts und Apfelschorlen fehlen. Eine neue Technologie ist die Telemetrie zwar nicht, in Verbindung mit KI-gestützten Systemen kann sie gleichwohl auch in anderen Branchen wie der Logistik zu enormen Effizienzgewinnen führen.
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Sebastian Wolking