Mensch, Maschine, Mittelstand
Waren vor wenigen Jahren Roboter allenfalls in Großunternehmen der Industrie im Einsatz, sind sie inzwischen auch im Mittelstand zu finden. Das hat Gründe: Weil die Preise sinken und die Handhabung einfacher wird, schwindet auch die Zurückhaltung der Firmenchefs.
An der Smartphone-Produktionslinie im Haupt- und Werkssitz des Telekommunikationsgeräte-Herstellers Gigaset in Bocholt zieht der Roboterarm eine Minischraube fest. Dann verharrt er. Und erst nachdem eine Mitarbeiterin eine Folie, die auf dem neuen Smartphone klebt, abgezogen hat und den Cobot antippt, beginnt dieser mit dem nächsten Arbeitsschritt. „Rund 60 Prozent der Montage erledigen die Roboter, 40 Prozent ist Handarbeit“, beschreibt Jörg Wissing, Vice President Automation bei Gigaset, die Mensch-Roboter-Kollaboration. Das Ergebnis: Gigaset kann durch die Automatisierung mit Cobots hochwertige Smartphones made in Germany zu wettbewerbsfähigen Preisen herstellen.
Immer mehr mittelständische Unternehmen entdecken bei ihrer Strategieentwicklung die Robotik. Ein Logistikbetrieb will zwei maschinelle Helfer für den Transport schwerer Ware vom Lagerregalturm zur Versandstation nutzen, wo ein Mensch die Frachtpapiere hinzufügt. Eine Maschinenbaufirma setzt Robotik in der Fertigung zum Schrauben, Bohren, Schweißen und Kleben ein. Versicherungsunternehmen und Pflegeheime beschäftigen Serviceroboter in der Kantine und ein Landwirt lässt Maschinen auf seinem Acker schuften. Neben klassischen Industrierobotern, die häufig auch für den kollaborierenden Betrieb geeignet sind, werden zunehmend Apparate eingesetzt, die speziell für die Mensch-Roboter-Kollaboration konzipiert sind: Die Cobots sind kleiner und günstiger als ihre großen Geschwister und so einfach zu programmieren wie ein Smartphone. „Es ist ein neues Ökosystem entstanden, das in erster Linie interessante Produkte für kleine und mittelständische Unternehmen hat“, sagt Volker Spanier, Vorsitzender des VDMA Robotik und verantwortlich für Roboterlösungen bei Epson Deutschland.
Berührungsängste abbauen
Kleinere Unternehmen steigen in die Automation häufig mit einfachen Anwendungen wie Palettieren oder Pick-and-Place ein. Experten zum Programmieren werden dafür in der Regel nicht mehr benötigt, denn die gewünschten Bewegungsabläufe „lernt“ der mit einer grafischen Oberfläche ausgestattete Roboter über Drag and Drop. Noch einfacher geht es, indem man den Arm des smarten Automaten einmal mit der Hand entlang der gewünschten Verfahrbahn bewegt und dies per Knopfdruck für künftige Tätigkeiten festlegt. Die einfache Handhabung hilft, den Roboter dem Menschen näherzubringen. „Mit den ersten Erfahrungen werden mögliche Berührungsängste ab- und Kompetenz aufgebaut“, erläutert Volker Spanier. Vor allem die unmittelbar betroffenen Mitarbeiter, die Hand in Hand mit den mechanischen Helfern arbeiten, müssen die Technik verstehen, Vertrauen zu ihr entwickeln. Spanier: „Darum gilt als absolute Maxime: Der Roboter muss dem Menschen zuarbeiten, nicht umgekehrt.“
Robots as a Service
Sind die Arbeitsplätze derart humanzentriert gestaltet, lässt sich die Teilautomatisierung Schritt für Schritt ausbauen. Dafür sind kontinuierlich Investitionen notwendig. Diese allerdings sollten kaum noch einen Unternehmer schrecken, denn die Anschaffungskosten für Robotik sind in den letzten Jahren erheblich gesunken. Außerdem gibt es downgesizte Produkte, also abgespeckte Varianten großer, komplexer Roboter, die auch für kleinere Firmen sinnvoll und erschwinglich sind. „Zudem sind die Gesamtbetriebskosten niedrig, denn Roboter können ja rund um die Uhr arbeiten“, erläutert der VDMA-Robotik-Vorsitzende. „Da amortisieren sich Kauf oder Leasing schnell.“ Apropos Kosten: Bei „Robots as a Service“ sind unterstützende Leistungen wie Systemintegration, Wartung und Instandhaltung inklusive.
Ein Grund für die wachsende Beliebtheit der künstlichen Arbeitstiere: die Corona-Krise. Die Pandemie hat der Nachfrage nach Robotern einen Schub gegeben. Kein Wunder, schließlich weiß jedermann, dass Maschinen sich nicht mit Covid-19 infizieren können und ins Homeoffice müssen. Der Anteil der neu installierten Cobots an den globalen Installationszahlen steigt schneller als der der klassischen Roboter und beträgt derzeit etwa fünf Prozent. Der Weltroboterverband IFR meldet für 2019 einen Verkauf von rund 18.100 Collaborative Robots, elf Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Für Deutschland prognostiziert der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), dass die Robotik- und Automationsbranche in Deutschland im Jahr 2021 mit 13,4 Milliarden Euro ein Umsatzplus von elf Prozent erwirtschaften werde.
Cobots aus dem Mittelstand
Während das Segment der klassischen Industrieroboter, ausgestattet mit KI-Software, Bildverarbeitung und anderen Sensorsystemen, von Herstellern wie Kuka, ABB, Fanuc und Yaskawa beherrscht wird, kommen viele der speziellen Cobots auch von kleineren Firmen. Zu ihnen zählen Franka Emika, Doosan Robotics, Techman Robot und die dänische Firma Universal Robots. Sie ist Marktführer und hat schon über 50.000 kollaborierende Helfer verkauft.
Die Cobots für das Bocholter Gigaset-Werk sind schon seit drei Jahren im Einsatz, eine der letzten Lieferungen ging an den schwäbischen Automobil- und Sanitär-Zulieferer Vema. Mit Jürgen, so der Name des Cobots, und den drei Roboter-Kollegen Bruno, Elfriede und Günter will Vema-Geschäftsführer Christian Veser seine Mitarbeiter aus Fleisch und Blut von monotonen und anstrengenden Verpackungsaufgaben befreien. Alle Anwendungen hat der Mittelständler selbst implementiert und programmiert. Weil die Cobots an 24 Stunden und sieben Tagen die Woche arbeiten, produziert der schwäbische Mittelständler nun quasi in einer dritten Schicht. Veser: „Die Produktivität hat sich um bis zu 30 Prozent erhöht.“ Die Cobots seien für sein Haus die Bereicherung, die man sich immer gewünscht habe: „Komplett flexibel einsetzbar und nach einer kurzen Einführung durch unsere Maschineneinrichter selbstständig programmierbar“.
Konfiguration aus dem Baukasten
Stichwort: Individualisierung. Kleine und mittlere Betriebe können sich mittlerweile preiswerte und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Lösungen auch nach dem Baukastenprinzip zusammenstellen: Die unterschiedlichen Komponenten für einen maßgeschneiderten Low-Cost-Roboter, etwa Getriebe, Greifarme und Motorelemente ab 300 Euro, gibt es von Herstellern wie Schunk in Lauffen am Neckar, Fruitcore in Konstanz oder der Kölner Firma Igus. Die macht 70 Prozent ihres Geschäfts mit Integratoren, 30 Prozent mit Anwendern. Alexander Mühlens, Leiter des Geschäftsbereichs Automatisierung und Robotik bei Igus: „Restaurants und Hotels beispielsweise schneidern sich so ihren Plug-and-Play-Cobot zu erschwinglichen Kosten.“ Ein Tipp für Automatisierungswillige sind zudem Onlinemarktplätze wie www.rbtx.com, auf denen sich Automatisierungslösungen aus aufeinander abgestimmten Teilen zusammenstellen lassen. Automatisierungs-Fachleute sind sich sicher: Die Cobots und Low-Cost-Roboter im Baukastensystem werden zum Gamechanger. Viele bisherige Industrieroboter-Anwendungen als starre Vollautomatisierungslösung hinter Schutzzäunen waren nicht für kleinere Betriebe mit niedrigen Stückzahlen gemacht. Durch Produktion per Hand besaßen sie mehr Flexibilität. Die jungen Cobots, „die sich nach dem Takt des Menschen richten“, wie Wolfgang Wahlster sagt, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, und sich schnell und simpel auf die nächste Charge anpassen lassen, rechnen sich auch für 40-, 50- oder 60-Mitarbeiter-Firmen. Aber auch klassische Industrieroboter werden zunehmend einfacher bedienbar und günstiger. Weil nicht alle Roboter für eine Mensch-Maschine-Zusammenarbeit geeignet sind, wird es, so Volker Spanier, „künftig eine Koexistenz von Mensch-Roboter-Kollaboration und klassischem Industrierobotereinsatz geben“.
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Jürgen Hoffmann