Land der Tüftler und Macher?

Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung, Wachstumsmotor Europas – so klingt die bisherige Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ingenieurskunst, Made in Germany, Exportweltmeister – auch das sind Begriffe, die das Land in der Vergangenheit charakterisiert haben. Doch wofür steht es heute?

Das letzte Mal, als Deutschland sich selbst gefeiert hat, ist noch gar nicht so lange her. Mehr als eine halbe Million Menschen jubelten am 9. November 2024 Hunderten Künstlern und Musikern zu. Anlässlich des 35. Jahrestags des Mauerfalls sangen sie entlang des früheren Mauerverlaufs synchron Freiheitssongs, wo einst die innerdeutsche Grenze so viele Freiheiten beschränkte. Bilder, die um die Welt gingen. Fast wie damals im Jahr 1989. Doch die Feierstimmung war nur ein kleiner Freudenschrei, der beinahe wie ein Versehen wirkt, in einem Land, das sich im Krisenmodus befindet. Nicht nur die britische Financial Times fragte sich anlässlich des großen Tages, was denn jetzt noch das Geschäftsmodell des einstigen Exportweltmeisters sei. Auch andere internationale Medien stellen sich die Frage: Was soll aus Deutschland werden? Die Wirtschaft stagniert, Investitionen wandern ins Ausland, die Infrastruktur bröckelt – was Hunderttausende bei der Fußball-EM live erleben durften. Frust hat sich nach Jahren des Stillstands übers Land gelegt. Eine Regierung, die beherzt anpackt und auch schmerzhafte Reformen durchführt – noch wird sie verzweifelt gesucht.

Kein Wunder, dass sich das Bild ändert, das die Welt von Deutschland hat. Die Marke Deutschland wird schwächer. Das Beratungsunternehmen Brand Finance misst die Fähigkeit einer Nation, die Präferenzen und Verhaltensweisen verschiedener Akteure wie Staaten, Unternehmen und Öffentlichkeit durch Anziehung und Überzeugung zu beeinflussen, und bezeichnet das als „Soft Power“. Im Global Soft Power Index 2024 belegt Deutschland den fünften Platz (siehe Grafik Seite 23). Gar nicht so schlecht, könnte man meinen, wären da nicht die Jahre davor: 2023 und 2022 war es nämlich der dritte Platz. Auch in einem weiteren Ranking rutschte Deutschland ab: Nach sieben Jahren an der Spitze des sogenannten Anholt-Ipsos Nation Brands Index geht der Pokal in diesem Jahr an Japan. Das liege gar nicht so sehr daran, dass sich Deutschland so schlecht entwickle, schreiben die Studienautoren, sondern Japan so viel besser. Beide Rankings zeigen: Die Marke Deutschland lebt von ihrer Substanz. Sie fällt nicht ad hoc von Platz eins auf Platz 20, sie hangelt sich langsam nach unten. Da kann es schon genügen, wenn andere besser werden und man selbst eben nicht. Eine ganz neue Geschichte für Deutschland, denn das jahrzehntelange Narrativ war: Die Bundesrepublik ist das Gewinnerland. Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung, Wachstumsmotor – eine Erfolgsstory, der die Fortsetzung fehlt. Wie könnte sie aussehen?

Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich der Blick darauf, wo Deutschland stark ist. Auf seine Hochschulen etwa. Nach den USA ist die Bundesrepublik laut dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) das beliebteste Gastland für internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Strahlkraft der hiesigen Hochschulen hat Tradition: „Die Zahl der internationalen Studierenden an den deutschen Hochschulen ist seit 15 Jahren in Folge gestiegen, auch während der Corona-Pandemie“, sagt Prof. Monika Jungbauer-Gans, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). „Dies ist ein deutliches Zeichen für die Attraktivität der deutschen Hochschulen und ihrer Studienangebote.“ 

„Hervorragende Techniker“ 

Wissenschaft bedeutet auch Forschung und Entwicklung, Deutschlands Steckenpferd. Vom Auto über den Laufschuh bis zum Corona-Impfstoff – all das wurde in Deutschland erfunden und zur Marktreife gebracht. Kann das der neue Markenkern sein? Nicht nur die Hochschulen, auch die dahinterliegenden Institute wie die Helmholtz-Gesellschaft, das Max-Planck-Institut und das Gründungszentrum UnternehmerTUM, das zur Technischen Universität München (TUM) gehört genießen einen exzellenten Ruf. Letzteres wurde im vergangenen Jahr sogar von der Financial Times als bestes europäisches Gründungszentrum ausgezeichnet.  „Wir haben hier in Deutschland hervorragende Ingenieure und Menschen, die Prozesse verstehen“, sagt Andreas Widl. Der Chef der aktuell noch in Frankfurt/Main ansässigen Firma Samson topft den Konzernsitz ins benachbarte Offenbach um – die Investition in den neuen Standort beläuft sich auf knapp 400 Millionen Euro. Es ist das größte Investitionsprojekt der über hundertjährigen Firmengeschichte. Warum hier und nicht woanders? Widls Antwort lautet: „Wir glauben an den Innovationsstandort Deutschland.“

Für was Deutschland noch stehen kann, macht Jan Müller am Beispiel der dualen Berufsausbildung klar und an der Rolle, die die Industrie- und Handelskammern dabei spielen: zupacken und Eigenverantwortung übernehmen. „Die Prüfung im dualen System lässt man nicht durch die öffentliche Hand machen, sondern sie erfolgt in Eigenverantwortung durch die Industrie- und Handelskammern“, sagt er. Müller appelliert an Unternehmer, sich auf kommunaler Ebene stärker einzubringen. Das wirke auch demokratiestärkend: „In dem Moment, wo Menschen Verantwortung übernehmen, sind sie gleichzeitig auch engagiert und im gesellschaftlichen Mittelpunkt. Dann können sich nicht nur in ihren Blasen verkriechen.“
 

Markenkern Innovation?

An Kampagnen, die versuchen, Deutschland zu positionieren, mangelt es nicht. Bei der gemeinsamen Standortinitiative der Bundesregierung und des BDI „Land der Ideen“ etwa wird auch das Thema Forschung und Entwicklung berührt. Die Kampagne wurde anlässlich der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 ins Leben gerufen mit dem Ziel, Deutschland als modernes und weltoffenes Land sowie als innovativen Investitions-, Hochtechnologie- und Wirtschaftsstandort zu präsentieren. Bis heute macht die Initiative Ideen sichtbarer und fördert den internationalen Austausch über Innovationen.
Ideenreichtum und Innovationen – das ist auch für Werber Benedikt Göttert ein wichtiger Punkt: „Früher waren wir Dichter und Denker. Heute dichten und denken wir in Innovationen.“ Göttert arbeitet für die Agentur Serviceplan, die im Auftrag des Handelsblatts eine Image-Kampagne für Deutschland mit dem Titel „Sei, auf wen du wartest“ entwickelt hat. Die Anzeige zeigt Wünsche: „Jemand müsste die Ozeane säubern“, „Jemand sollte die Abteilung neu strukturieren“ und „Jemand müsste die neuen Nachbarn willkommen heißen“. Die Kampagne solle die Bürgerinnen und Bürger dazu einladen, das Land wieder mehr mitzugestalten, sagt Göttert. Er selbst hat auch einen Wunsch, nämlich den von Deutschland als gestaltendem Treiber: „Es wäre schön, wenn sich Deutschland auf internationaler Ebene wieder die Spielmacher-Rolle sichern würde. Welches andere Land hätte denn bessere Voraussetzungen für diese Rolle als Deutschland in Europa?“ Innovationen schaffen, Verantwortung übernehmen, zupacken, gestalten – ist es das? Deutschland, das Land der Tüftler und Macher? Jan Müller, An­dreas Widl und Benedikt Göttert sind sich einig: Die Antwort liegt in unserer Hand.

Warum Deutschland, Herr Müller? 

Drei Fragen an Jan Müller, Vorstandsvorsitzender des Hafenbetreibers J. Müller AG und IHK-Präsident Oldenburg  

  1. Warum ist es wichtig, etwas für den Standort zu tun? 
    Der eigene Erfolg hängt maßgeblich vom Umfeld ab. Deshalb engagiere ich mich in der IHK. Einer meiner Vorfahren war lange Mitglied des Oldenburgischen Landtags und hat sich für die Gründung der ersten höheren Schule hier in der Region eingesetzt. Aktuell ist es die Verkehrsinfrastruktur, die für uns als Hafenbetreiber eine wichtige Rolle spielt. 
     
  2. Gibt es etwas Besonderes, das Unternehmer einbringen können?
    Unsere DNA ist Optimismus und Zuversicht sowie Mut und Engagement. Damit kann man viel bewegen. Außerdem kann man nicht immer nur Politikschelte betreiben. Man muss auch selbst sichtbar werden mit seinen ­Themen.  
     
  3. Wofür kann Deutschland künftig Ihrer Meinung nach stehen?
    Wir können wirklich stolz sein auf unser Grundgesetz. Und ich fände es toll, wenn wir uns dahinter versammeln könnten. Und wenn wir dann noch für Mut, Zuversicht, Eigenverantwortung und den Glauben an eine soziale Marktwirtschaft stehen könnten – das wäre mein Wunsch.

Warum Deutschland, Herr Widl? 

Drei Fragen an Andreas Widl, Vorstandsvorsitzender des  Ventilherstellers Samson AG  

  1. Sie investieren knapp 400 Millionen Euro in einen neuen Standort in Deutschland. Woher rührt Ihr Engagement?
    Samson wurde in Deutschland gegründet und ist hier tief verwurzelt. Gleichzeitig verfügen wir mit 17 Produktionsstätten und mehr als 40 internationalen Büros über ein globales Netzwerk, in dem jeder Standort seine eigene, wichtige Rolle spielt. In Deutschland haben nach wie vor hervorragende Ingenieure und Menschen, die Prozesse verstehen. Die Innovationen entstehen hier – und das behalten wir bei. Abwandern ist für uns keine Option. 
     
  2. Was bedeutet Deutschland für Sie ganz persönlich? 
    Ich verdanke diesem Land sehr viel. Ich bin hier zur Schule gegangen, habe hier studiert und für unterschiedliche Unternehmen gearbeitet. Ich habe einfach eine sehr große Affinität zu Europa und zu Deutschland.  
     
  3. Und was sagen Sie zu der aktuellen Stimmung im Land?
    Dass wir im Paradies unglücklich sind, weil wir unsere Qualitäten nicht zu schätzen wissen. Arbeit wird hierzulande momentan als Störung der Freizeit angesehen. Aber alles das, was wir heute haben, was wir uns leisten können, worauf wir stolz sind, ist das Ergebnis der harten Arbeit unserer Eltern und Großeltern. Wenn wir das fortsetzen wollen, müssen wir genauso hart anpacken.

 

Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Tanja Könemann
Bildnachweis: Getty Images