„Wir werden oft um fünf nach zwölf gerufen“

Ludwig J. Weber leitet den Bereich Wirtschaftsrecht bei der bundesweit vertretenen Sozietät Schultze & Braun. Im Interview spricht der gelernte Fliesenleger und promovierte Jurist über verschiedene Formen von Krisen in Familienunternehmen und Strategien für die erfolgreiche Sanierung.

Herr Weber, Schultze & Braun ist unter anderem spezialisiert auf Krisenberatung und Insolvenzverwaltung. Wie beschreiben Sie den typischen Kunden in Ihrem Restrukturierungsgeschäft? 

Unser Ansinnen ist es, Unternehmen bereits dann zu unterstützen, wenn sie sich im vorinsolvenzlichen Krisenstadium befinden, also noch keine Insolvenzantragspflicht besteht. Wir nennen das die magische Zwölf-Uhr Grenze. Das bleibt aber leider oft ein Wunsch. Meist ist es so, dass wir erst um fünf nach zwölf angerufen werden. Wir müssen dann versuchen, die Uhr „zurückzudrehen“ und schauen, ob eine erfolgreiche Sanierung gelingen kann, ohne die gesetzlichen Pflichten zu ignorieren. Denn diese verpflichten die Geschäftsleitung zwingend unter bestimmten Voraussetzungen dazu, einen Insolvenzantrag zu stellen.

Warum zögern viele Unternehmen, obwohl die Probleme offensichtlich sind und sogar rechtliche Konsequenzen drohen?

Insolvenz ist in Deutschland immer noch ein Unwort. Eine Insolvenz wird als Schandfleck in der Vita betrachtet und nicht als Herausforderung, der man sich stellt, um sie zu meistern. Also völlig anders, als man das aus Amerika kennt. Dort ist man eigentlich erst ein gestandener Manager, wenn man auch mal eine Insolvenz hingelegt und gesagt hat: Ich bin gestolpert und hingefallen, aber wieder aufgestanden. 

Die Zahl der Insolvenzen steigt – besonders stark im zweiten Halbjahr 2024. Wie viele davon wären vermeidbar, wenn man früher zu Ihnen käme?

Für die Bewertung müssen wir uns anschauen, wo wir herkommen. Wir hatten eine große Insolvenzdelle. Es gab lange eine Niedrigzinspolitik und während der Corona-Pandemie Subventionen sowie ein temporäres Aussetzen der Insolvenzantragspflicht. Durch diese Sondereffekte besteht ein erheblicher Nachholbedarf, der uns jetzt begleitet. Angesichts der eingetretenen und anhaltenden Konjunkturkrise in Deutschland nähert sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen nun aber dem Niveau aus der Zeit der Finanzkrise 2009 an. 

Für die Unternehmen, die das betrifft, ist das vermutlich ein schwacher Trost. Was sind die Warnsignale, die Sie in kriselnden Unternehmen typischerweise vorfinden?

An vorderster Stelle steht das Thema Liquidität. Entweder es gibt Liquidität, man ist zahlungsfähig. Oder es gibt keine Liquidität. Dann ist man zahlungsunfähig und muss unverzüglich, spätestens innerhalb von drei Wochen, einen Insolvenzantrag stellen. Das ist eine harte Deadline. Wenn wir in Restrukturierungsmandate einsteigen, ist das das Erste, was wir überprüfen: der aktuelle Liquiditätsstatus und eine 13-Wochen-Planung nach vorne, um überhaupt zu sehen, ob finanziell noch genügend Luft zum Atmen da ist.

Was sind weitere Punkte, auf die es bei der Sanierung ankommt? 

Man muss sich anschauen, um welche Form der Krise es sich handelt. Geht sie von der Marktseite oder vom Wettbewerb aus – gibt es also überhaupt ein konkurrenzfähiges Geschäftsmodell? Daneben ist zu prüfen, ob der Krise leistungswirtschaftliche Ursachen zugrunde liegen. Welche Lagerbestände gibt es, welche Abnahmepflichten? Wie sehen Rahmenverträge aus und wie die Personalstruktur? Ist der Vertrieb vernünftig organisiert und wie kommt das Unternehmen an seine Kunden? Auch hier gibt es eine Abwägung von Chancen und Risiken und es geht darum, die Frage zu beantworten, ob die konkret geplanten Maßnahmen objektiv geeignet sind, das Unternehmen in überschaubarer Zeit bedarfsorientiert zu sanieren.

Der Handel steckt hierzulande in einer permanenten Krise. Sehen Sie einen Ausweg? 

Da geht es oft um externe Faktoren, nämlich ein geändertes Kundenverhalten. Wir alle sind ein bisschen weggekommen vom klassischen Stadtbummel – und das schon vor der Corona-Pandemie, die den Wandel gleichwohl beschleunigt hat. Geschäftsmodelle, wie sie beispielsweise Kaufhof früher hatte, haben von der Nachkriegszeit bis in die die 2000er Jahre gut funktioniert. Heute wird das weniger nachgefragt. Und so etwas wiederzubeleben, ist schwierig, mitunter auch ausgeschlossen. Hier bedarf es neuer innovativer Ansätze.

Wie stellt sich die Lage im Automobilbau dar?

Wenn ein Zulieferer, was wir häufiger haben, ausschließlich am Verbrennerstrang der Motorentechnologie hängt, dann kann man heute absehen, dass das nicht unbedingt ein Zukunftsmodell sein wird. Und wenn sich beim Unternehmen keine Innovation abzeichnet, wird es dort Probleme geben. Abgassysteme beispielsweise brauche ich in Elektrofahrzeugen nicht mehr. Unternehmen, die sich einseitig darauf fokussiert haben, werden einen Transformationsprozess müssen oder in Schwierigkeiten geraten.

Selbst der lange glänzende deutsche Maschinenbau schwächelt. Woran liegt es? 

Wir haben ein Thema für die gesamte klassische Industrie in Deutschland: die hohen Lohnkosten und die Energiepreise. Letztere betreffen auch den Bereich KI, der sehr hohe Mengen an Energie verbraucht. Aber wir können auch in anderen Bereichen nicht mehr so weitermachen wie in einer Wohlfühloase Deutschland. Gerade in der Automobilbranche ist ein Wandel offenkundig.

Wie gehen Sie da als Sanierer vor?

Was wir wahnsinnig gerne tun würden, aber selbstverständlich nicht können, ist das grundsätzliche Nachfrageverhalten nach Bedarf zu verändern. Wir müssen uns natürlich an den Gegebenheiten orientieren. Deshalb kann nicht jede Restrukturierung gelingen. Da kommt von unserer Seite nach der Analyse der Probleme die klare Aussage: Dieses Unternehmen kann so nicht fortgeführt werden – es sei denn, es gibt eine ganz grundsätzliche Änderung im System. Auch (Teil-)Verkäufe einzelner Bereiche können hier eine Rolle spielen. 

Sie sind sehr praktisch ins Berufsleben gestartet – nämlich als Fliesenleger. Hilft das auch beim Restrukturieren?

Ich glaube, das zeichnet mich bis heute ein wenig aus. Nicht weil ich gerne auf Baustellen bin, sondern vielmehr, weil ich den Mittelstand gut verstehe und mich auch dort beheimatet sehe – letzten Endes durch das elterliche Bauunternehmen, was auch der Grund für meine Berufsausbildung parallel zum Studium war.

Was braucht man genau, um den Mittelstand zu verstehen?

Zunächst einmal muss man sich bewusst machen, dass man gerade in einem mittelständischen Unternehmen, das eventuell sogar ein Familienunternehmen ist, als Sanierer nur bedingt ein gern gesehener Gast ist. Die Tatsache, dass er sich in einer Situation befindet, in der er Hilfe benötigt, sagt nachvollziehbarerweise nicht unbedingt jedem Unternehmer im Mittelstand zu. Das sind Machertypen, Leute, die es gewohnt sind, das Heft des Handelns in der eigenen Hand zu halten und voranzugehen. 

Kann dieses Selbstbewusstsein der Chefs nicht auch zu Problemen führen? 

Ja, aber indem wir ihnen fundiert und praxisorientiert die Perspektiven aufzeigen, die sich für ihr Unternehmen im Zuge der Sanierung ergeben, können wir die meisten von den Vorteilen einer Zusammenarbeit überzeugen. Als Berater ist es grundsätzlich unsere Aufgabe, mit jedem Mandanten gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, die er mit uns an seiner Seite umsetzt. Oder anders formuliert: Heute sind Überzeugungsarbeit und operatives Anpacken gefragt. 

Was machen Sie anders als andere Kanzleien? 

Wir beschränken uns nicht darauf, gute Ratschläge zu geben und nach Rechnungszahlung den Mandanten wieder alleinzulassen. Wir lassen uns tatsächlich an den Ergebnissen messen. Wenn der Mandant es möchte, bleiben wir an Bord, solange die Krisensituation es erfordert, und setzen unsere Ratschläge auch unmittelbar operativ um – etwa im Rahmen eines Interim-Management-Auftrages. Oder oftmals auch im Rahmen einer doppelseitigen Treuhand für die Gesellschafter einerseits und für die Banken und Stakeholder andererseits. Die dauerhafte Beratung einer Vielzahl von Mandanten, auch viele Jahre nach erfolgreicher Überwindung der Krise zeigt mir, dass dieser Weg im Mittelstand ganz gut funktioniert.  

Können Sie das noch konkreter beschreiben?

Wenn ich ein neues Mandat aus der Industrie oder aus der Wirtschaft habe, mache ich einen Termin – so wie jeder Anwalt es auch tun würde. Aber ich fahre zum Mandanten hin. Dann kommt oft die Frage: Warum kommen Sie zu mir? Die Antwort ist immer dieselbe: Ich will mit Ihnen durch Ihr Unternehmen gehen. Ich will Ihr Unternehmen sehen. Und ich möchte sehen, wie Ihre Mitarbeitenden arbeiten und reagieren, wenn wir da zu zweit durchgehen – ohne dass ihnen der Grund für meinen Besuch zu diesem Zeitpunkt offengelegt wird. Dann erfahre ich einiges über das Unternehmen, die Mitarbeitenden und die Führungsstruktur direkt von den Beteiligten. Ein Unternehmen ist ja ein Organismus. Wenn ich den nicht ganzheitlich verstehe, kann ich keinen Heilungsprozess ansetzen. Das geht ganz bestimmt nicht vom Schreibtisch aus.

Wenn Sie in die Zukunft blicken, wie zuversichtlich sind Sie für den Standort Deutschland und den industriellen Mittelstand?

Ich glaube, wir haben einen sehr schweren Weg vor uns, auf dem wir nicht ans Ziel kommen werden, ohne größere Einschnitte zu machen, die uns alle betreffen. Der deutsche Mittelstand hat aber mit seiner Innovationskraft mehr als nur einmal bewiesen, dass er zu Recht das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist. Hier sind sicher auch politische Weichen zu stellen, um langfristig wieder zu erstarken, was in Deutschland ohne Zweifel möglich ist. Es ist wichtig, die Herausforderungen, vor denen unser Land steht, zeitnah anzugehen. Die Ergebnisse werden sich dann mittel- bis langfristig zeigen.

Was genau muss geschehen?

Das fängt an bei der Ausbildung an, gefolgt von Investitionen in zukunftsträchtige Technologien. Es geht weiter über die Energiepolitik bis hin zu einer Strategie für Schlüsselbranchen wie zum Beispiel Chemie und Automotive. Wenn diese Branchen innovativ gefördert werden, sodass darüber Einnahmen generiert werden können, dann kann sich auch die Situation bei den transferfinanzierten Leistungen vom Arbeitslosengeld bis zur Rente wieder entspannen. Das Ganze bedingt aber erstmal einen Gang durch das Tal der Tränen. Ob politisch umgesetzt, versehe ich mit einem Fragezeichen. Ich würde es vor allem für die kommenden Generationen sehr begrüßen.  

Zur Person

Ludwig J. Weber, 60, absolvierte parallel eine Ausbildung zum Fliesenleger im elterlichen Bauunternehmen sowie ein Jurastudium. Anschließend leitete er den Familienbetrieb bis zu dessen Verkauf. Vor dem Einstieg bei Schultze & Braun in Bremen war er in einer internationalen Großkanzlei, einer regionalen sowie einer Big-Four-Wirtschaftsprüfungsgesellschaft als Rechtsanwalt tätig. Bei Schultze & Braun leitet Weber den Bereich Wirtschaftsrecht. Die 1975 gegründete Sozietät zählt zu den am häufigsten bestellten Insolvenzverwaltern in Deutschland und beschäftigt mehr als 500 Experten an 30 Standorten in Deutschland, Frankreich und Italien.


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Das Interview führte Thomas Mersch
Bildnachweis: Ludwig J. Weber