Deutschland sucht die Super-Firma
Nachhaltiger, digitalisierter, KI-unterstützt und resilienter – angesichts der vielen Krisen, die weltweit toben, brauchen Organisationen, Vorgesetzte und Teams neue Superkräfte, um dauerhaft erfolgreich zu sein. Sich verändern oder weichen: Wie Unternehmer mit dem Transformationsdruck umgehen.
Es könnte der sprichwörtliche Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt: Wenn VW, das Flaggschiff der deutschen Industrie, der Konzern, der mit Käfer, Polo, Passat und Co. das Wirtschaftswunder mitgeprägt hat, wie im September laut darüber nachdenkt, deutsche Werke zu schließen und in großem Stil Stellen abzubauen, dann ist das mehr als nur ein Warnzeichen. Und zwar eins, das auch Wirtschaftsminister Robert Habeck sehen müsste. Selbst wenn er bei seinem Besuch im VW-Werk Emden vor wenigen Wochen anderes gezeigt bekam. Die Fabrik wurde erst vor Kurzem für mehr als eine Milliarde Euro für die Fertigung der Elektromodelle ID.4 und ID.7 umgerüstet. Stolz zeigten VW-Mitarbeiter dem Minister, wie am laufenden Band ID-7-Karosserien und E-Motoren miteinander „verheiratet“ werden. Derzeit geschieht das nicht im 60-Sekunden-Takt, sondern im 90-Sekunden-Takt. Volkswagen hat den Output in Emden um ein Drittel heruntergefahren. Zwar ist jedes der dort hergestellten Autos bereits verkauft – aber es könnten durchaus noch mehr sein. Wären da nur nicht die gegenwärtige Rezession in Deutschland und der schwächelnde Export.
Gründe für die wirtschaftliche Schwäche gibt es viele. Die wichtigsten, die Ökonomen immer wieder nennen: Exportschwäche und Energiepreise. Weil die Weltwirtschaft fragmentierter und wieder nationaler geworden sei, funktioniere das deutsche Exportmodell nicht mehr so gut, schreiben etwa Gabriel Felbermayr, Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, und Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts in Gastbeiträgen für die Stiftung Familienunternehmen. Das belegen auch die jüngsten Zahlen: Derzeit geht eine Mehrheit der Unternehmen von rückläufigen Aufträgen aus dem Ausland aus, heißt es beim ifo Institut, das regelmäßig die Exporterwartungen der deutschen Industrie abfragt. Die Energiepreise seien den Ökonomen zufolge in Deutschland zwar schon immer relativ hoch gewesen, doch der Preisschock aufgrund des Ukraine-Kriegs habe die Bedingungen für Unternehmen noch einmal drastisch verschlechtert. „Die deutsche Wirtschaft muss sich an das gestiegene Energiepreisniveau anpassen“, schreibt Fuest. Die Politik fordert er auf, zu prüfen „ob Steuern und Abgaben Energie bei ohnehin schon hohen Preisen unnötig weiter verteuern“.
Damit spricht er vielen Unternehmern aus der Seele. In der im Oktober veröffentlichten Creditreform-Studie zur Wirtschaftslage und Finanzierung im Mittelstand bewerteten 78,5 Prozent der befragten Unternehmen die derzeitige Wirtschaftspolitik negativ, positive Stimmen waren kaum messbar. „Die Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik der Ampel-Koalition wächst“, kommentiert Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung. Besonders deutlich falle die Kritik in Branchen wie dem Verarbeitenden Gewerbe aus. „Die Unternehmen fordern vor allem einen schnelleren Bürokratieabbau sowie Entlastungen bei den Energiepreisen“, so Hantzsch.
Der Transformationsdruck steigt
Unabhängig von den Rahmenbedingungen, müssen Unternehmen aber auch selbst ihre Hausaufgaben machen. Während der große Wurf seitens der Politik trotz unübersehbarer Warnsignale auf sich warten lässt, machte Robert Habeck in Emden vor der VW-Belegschaft deutlich, dass VW viele seiner Probleme – er nannte sie „konzerninterne Lasten der Vergangenheit“ – selbst beseitigen müsse.
Solche Lasten gibt es nicht nur bei VW. Generell sind Unternehmen in Deutschland extrem gefordert, sich anzupassen, wie der BCG-Index für Transformation und Sondersituationen zeigt. Laut dem Index, den das Beratungsunternehmen Boston Consulting Group jährlich ermittelt, steht jedes dritte deutsche Unternehmen (33 Prozent) unter einem hohen Transformationsdruck, jedem zwölften Unternehmen (8 Prozent) steht sogar eine umfangreiche Restrukturierung bevor. Besonders betroffen sind dabei die Immobilienbranche, Technologie-, Medien- und Telekommunikationsunternehmen, der Einzelhandel sowie Logistiker und Industrieunternehmen.
Nicht schneller handeln, sondern anders
In welchen Unternehmensbereichen die größten Veränderungen zu erwarten sind, haben die Beraterkollegen von Accenture untersucht. Ihr Pulse of Change 2024 Index bewertet die sechs Bereiche Technologie, Talent, Wirtschaft, Geopolitik, Klima, Verbraucher und Gesellschaft anhand von Indikatoren wie Arbeitsproduktivität, Venture-Capital-Finanzierungen oder IT-Ausgaben. Anschließend werden diese Daten mit den Ergebnissen einer Umfrage unter 3.400 Führungskräften verglichen, um zu erfahren, wie Geschäftsführer und Manager Veränderungen einschätzen und wie sie ihr Unternehmen darauf vorbereiten.
Der Index zeigt, dass sich der Wandel in immer schnellerem Tempo vollzieht, allen voran in den Bereichen Technologie und Talent, und dass es Unternehmen immer schwerer fällt, damit Schritt zu halten. „Die Veränderungen der letzten Jahre erfordern eine strukturell andere Arbeitsweise der Unternehmen“, sagt Marco Huwiler, Leiter Strategy und Consulting bei Accenture. „Es geht nicht darum, dass wir einfach dasselbe tun, nur schneller.“ Vielmehr würden diejenigen Unternehmen in Zukunft erfolgreich sein, „die eine Strategie verfolgen, bei der sie jeden Teil ihres Geschäfts mithilfe von Technologie, Daten und KI neu erfinden und sicherstellen, dass ihre Mitarbeiter dabei im Mittelpunkt stehen.“ Die gute Nachricht: Tatsächlich fühlen sich die befragten Unternehmer noch am ehesten dafür gewappnet, erfolgreich auf Veränderungen in den Bereichen Personal und Technologie zu reagieren.
Neverending Story Fachkräftemangel
Change-Prozesse durchzuführen, ist kein Selbstläufer. Am wichtigsten sei es, Maßnahmen umzusetzen, bevor sich die Situation weiter verschlechtert, schreiben die Autoren der BCG-Studie. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei das Personal ein. Nur wer motivierte, qualifizierte und veränderungsbereite Mitarbeiter hat, kann sein Geschäft anpassen und zukunftsfähig aufstellen. Doch wie die Creditreform-Analyse zeigt, schlägt sich die Investitionszurückhaltung der Wirtschaft auch bei Fachkräften bereits nieder. Erstmals seit vielen Jahren ging die Zahl der Beschäftigten zum Herbst 2024 zurück. 21,2 Prozent der Unternehmen meldeten einen Personalabbau, während nur 15,5 Prozent neue Mitarbeiter eingestellt hatten.
Gleichzeitig verschieben sich die Ansprüche der Unternehmen an ihre Belegschaft. Lange Zeit maßgebliche Kriterien wie handwerkliches Geschick, Berufserfahrung, Fachwissen oder körperliche Belastbarkeit verlieren an Bedeutung. Gefordert in der neuen Arbeitswelt sind laut der aktuellen Jobmonitor-Studie Fähigkeiten wie Selbstmanagement, Lern- und Einsatzbereitschaft, Anpassungsfähigkeit und kritisches Denken. Die Studie, für die die Bertelsmann-Stiftung mehr als 47 Millionen Online-Stellenanzeigen ausgewertet hat, spricht von sogenannten Future Skills. Demnach gewichten Manager und Personaler soziale und kommunikative Fähigkeiten immer stärker sowie alles, was sich unter Empathie und Einfühlungsvermögen zusammenfassen lässt. Martin Noack, Co-Autor der Jobmonitor-Studie, erkennt darin auch einen Wandel des Führungsstils: „Durch mehr Empathie und Wertschätzung gelingt es, auch in zunehmend virtuellen Teams ein vertrauensvolles und sinnstiftendes Arbeitsklima zu schaffen.“ Zudem würden Future Skills benötigt, um neue Technologien, allen voran generative Künstliche Intelligenz, sicher zu beherrschen.
Nichts geht mehr ohne KI
Denn dass in deren Einsatz ungeheures Potenzial steckt, ist inzwischen gesichert. Generative KI könnte 330 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung in Deutschland beitragen, jeder Arbeitnehmer im Schnitt 100 Stunden pro Jahr durch KI-Anwendungen einsparen. Diese Zahlen hat das Institut der deutschen Wirtschaft in einem Gutachten im Auftrag von Google ermittelt. Dabei stellen die Ökonomen einen klaren Zusammenhang zwischen der Nutzung Künstlicher Intelligenz und wirtschaftlichem Erfolg her: Während 19 Prozent der KI nutzenden Unternehmen ein Beschäftigtenwachstum auswiesen, sei das nur bei 6 Prozent der Unternehmen der Fall, die KI noch nicht nutzen.
Das zeigt: Um in Zukunft erfolgreich zu bleiben, muss sich Deutschland als Industrienation neu erfinden. Denn mit Werkschließungen und Abwanderung ist niemandem geholfen. Damit, auf die Politik zu warten, allerdings auch nicht.
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Christian Raschke
Bildnachweis: Artur Debat / Getty Images