KI LEADERSHIP

Wer ist hier der Boss?

Von Künstlicher Intelligenz versprechen sich Unternehmen Produktivitätssprünge und Gewinnsteigerungen. Doch die neuen Möglichkeiten wirbeln zugleich ihr Innerstes durcheinander. Führungskräfte müssen sich mit der Technologie vertraut machen, Prozesse ändern, Mitarbeiter ertüchtigen. Erste Erfahrungen machen deutlich, wie groß die Herausforderung ist.

„Ich beobachte einen Umschwung in den Unternehmen“, sagt Steffen Szary. „Vielen geht es nicht mehr nur um die Außensicht und das Kundenerlebnis, sondern auch um das Innenleben. Sie fragen sich: Was macht Künstliche Intelligenz mit den Strukturen, mit den Verantwortlichkeiten, mit den Rollen?“ Szary ist Gründer und Geschäftsführer der Beratungsagentur Openmjnd in Berlin und gibt Seminare zum Thema KI-Leadership. Viele seiner Kunden würden gerade interdisziplinäre Teams zusammenstellen, erzählt er, oft unter der Federführung der Personal- und Organisationsentwicklung, um Künstliche Intelligenz in alle Zweige ihres Unternehmens zu tragen. Denn KI ist mehrdimensional, umfasst rechtliche Aspekte, ethische, technologische, ökonomische. Dafür müsse Wissen zusammengetragen, gebündelt und verbreitet werden. „Führungskräfte müssen viel häufiger in den Austausch gehen und das Thema KI für die Mitarbeitenden greifbar machen“, sagt Szary. „Teamworkshops bieten sich beispielsweise an, um gemeinsam zu erörtern, welche Möglichkeiten und Potenziale in der Technologie stecken, aber auch, welche Unklarheiten und Unsicherheiten damit behaftet sind.

Anschaulich machen, wem KI nützt

„Es ist die Zeit des Ausprobierens und Experimentierens“, sagt Szary. „Es geht ja nicht darum, dass alles perfekt läuft, sondern darum, dass man ins Machen kommt.“ Genau das ist der Ansatz von Carl Fruth. Fruth ist Gründer und Inhaber der FIT AG mit Sitz in Lupburg, einer kleinen Marktgemeinde in der Oberpfalz zwischen Nürnberg und Regensburg. „Für größere Stückzahlen sind wir zu teuer“, sagt Fruth, ­dessen Unternehmen zum Beispiel elektronische Bauteile, Motorkomponenten für die Automobilindustrie, Instrumente für die Medizintechnik oder Ersatzteile durch additive Fertigung im 3D-Druck herstellt. „Aber bei kleineren Serien ist es so, dass die Projektierungskosten drumherum einen sehr signifikanten Anteil einnehmen.“ Diese Kosten versucht er zu drücken, mithilfe von Künstlicher Intelligenz.

Seit kurzem werden die Einzelteile auf eine Fläche gelegt, dort automatisch von drei Kameras aus verschiedenen Perspektiven fotografiert und über ein neuronales Netz identifiziert, sodass sie anschließend richtig sortiert werden können. Ein Arbeitsschritt, von der KI auf drei Sekunden reduziert, den die Mitarbeitenden zuvor manuell durchführen mussten. Das Modellprojekt wurde vom Land Bayern gefördert. Mittlerweile gibt es bei der FIT AG mehr als ein halbes Dutzend KI-Projekte, die helfen sollen, sauber zu dokumentieren, Abläufe zu optimieren und Aufwände besser schätzen zu können. Fruth, Typ hemdsärmeliger Klartext-Bayer, hat dafür ein eigenes Team zusammengestellt, einen Ingenieur zum Chief Digital Officer ernannt. „Die Einführung musst du schleichend machen, sodass die Mitarbeiter einen Nutzen haben“, sagt Fruth spitzbübisch über die ersten KI-Gehversuche im Unternehmen. „Ihnen zu sagen, dass sie jetzt etwas anders machen sollen, das ist ganz schwierig.“

Auch Steffen Szary ist überzeugt: „Es ist in erster Linie eine organisationale Aufgabe. Die Organisation muss Rahmenbedingungen schaffen und Leitlinien für den Einsatz von KI geben“, sagt er. „Die Führungskraft ist wiederum gefragt, wenn es darum geht, diese Leitlinien zu kommunizieren und in die Belegschaft zu tragen. Es geht vor allem darum, die eigenen Leute dazu zu befähigen, richtig und verantwortungsbewusst mit den Tools umzugehen. Veränderung fällt jedem Menschen schwer, aber auf lange Sicht kommt es darauf an, neue Routinen zu entwickeln und bei meinem Team Motivation und Lust zu schüren.“

Legt man die Ratschläge des Weltwirtschaftsforums zugrunde, dann besteht eine KI-Strategie aus fünf Säulen: Erklärbarkeit, Fairness, Robustheit, Transparenz und Datenschutz. Stabile Leitplanken geben Sicherheit, sie bergen aber auch neue Risiken. Denn heikel ist der Einsatz von KI mitunter schon. Experten zufolge kann schon das populäre Motto „Bring your own AI“ hochproblematisch sein, wenn durch den willkürlichen Einsatz von ChatGPT und Co. unternehmensinterne und oft auch personenbezogene Daten an KI-Modelle gefüttert werden. Das Abfließen dieser Daten zu verhindern, das ist eine klassische Führungsaufgabe.

Mehr Vertrauen in KI als in Vorgesetzte

Wissenschaftler wie der Psychologe Niels Van Quaquebeke von der Kühne Logistics University in Hamburg argumentieren, dass Künstliche Intelligenz in vielen Führungsrollen bald effizienter sein werde als eine durchschnittliche menschliche Führungskraft. Laut einer Studie in der Harvard Business Review haben Angestellte in den Bereichen Strategie und Performance-Management bereits heute mehr Vertrauen in KI-Modelle als in ihre menschlichen Vorgesetzten. Daher müssten sich Führungskräfte auf das konzentrieren, was sie besser können als Maschinen: ihre menschlichen Qualitäten ausspielen, Mitarbeiter motivieren, anleiten, ihnen zur Seite stehen. „Führungskräfte werden nicht abgelöst werden“, schreibt Martin Giesswein, Fakultätsmitglied der WU Executive Academy an der Wirtschaftsuniversität Wien, in einem Beitrag für das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ und betont: „KI ist ein Katalysator des modernen Führungsstils.“ „KI-Tools werden alle Ebenen im Management und im Führungsbereich durchziehen. Das ist großartig, weil wir einen absoluten Mehrwert dadurch gewinnen können“, sagte Sylke Piéch, Bereichsverantwortliche für KI & Leadership am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz am Rande der Messe Zukunft Personal Nord in Hamburg.

Wie das konkret geht, veranschaulichte ein Kunde von Steffen Szary neulich in einem seiner Seminare. Routinemäßig lädt die Führungskraft nun einen Tag, bevor sie eine Präsentation hält, die Präsentationsfolien auf ChatGPT hoch mit der Aufforderung an die KI, ihr doch bitte zu sagen, welche fünf kritischen Fragen aus dem Publikum im Anschluss auf sie zukommen könnten und wie sie auf ebendiese versiert antwortet. „Da ging ein richtiges Raunen durch den Raum, weil es genau solche Fälle sind, die anschaulich machen, wie Führungskräfte das Ganze für sich selbst nutzen können“, erinnert sich Szary. Er selbst nutze generative KI ebenfalls als Sparringspartner, lässt sie brainstormen, die wichtigsten Erkenntnisse aus aktuellen Studien zusammenfassen oder Fragen für ein Bewerbungsgespräch formulieren. Repetitive Managementaufgaben würde er gerne komplett an die Künstliche Intelligenz abgeben, zeitfressende Routine-Tasks auslagern, wenngleich er sich darüber im Klaren ist, dass der KI-Einsatz im Gegenzug ganz neue Routineaufgaben kreiert, wie etwa die regelmäßige Erstellung von Eingabebefehlen, sogenannten Prompts.

Menschliche Kreativität und Empathie bewahren

„KI wird zunehmend in die Entscheidungsprozesse von Führungskräften integriert und liefert datengestützte Erkenntnisse, die zu fundierteren und potenziell effektiveren Entscheidungen führen können. Führungskräfte müssen diese Erkenntnisse mit menschlichem Urteilsvermögen ausbalancieren, um zu vermeiden, dass sie sich zu sehr auf die Technologie verlassen“, schreiben kanadische Wissenschaftler in einem Konferenzbeitrag für das Kompendium „Evolutionary Artificial Intelligence“. „Die Dynamik zwischen menschlichen Führungskräften und KI-Tools ist komplex, wobei KI sowohl als Unterstützungsmechanismus als auch als potenzieller Konkurrent fungiert. Effektive Führung in diesem Kontext erfordert ein Verständnis dafür, wie man KI am besten integriert und gleichzeitig menschliche Kreativität und Empathie bewahrt.“ Die akademische Debatte kann am Arbeitsplatz künftig in reale Probleme umschlagen. Was zum Beispiel, wenn sich eine Führungskraft vollends auf die KI verlässt und dadurch ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schwindet? Oder wenn sie sich hinter der KI versteckt, um unangenehme Entscheidungen vor der Belegschaft zu rechtfertigen? Wenn sie etwa die Kündigung eines Mitarbeiters mit einer KI-Analyse rechtfertigt und begründet? Fragen, auf die es noch keine ultimativen Antworten geben kann.

Carl Fruth zieht generative KI gerne zurate, wenn er eine E-Mail beantwortet, zum Beispiel eine, auf die er instinktiv mit einer Schimpftirade reagieren würde. „Das diktiere ich ganz brutal in mein Handy rein“, so Fruth, der ChatGPT daraufhin anweist, seine verbale Kanonade in sauberes Geschäftsdeutsch zu übersetzen. „Dann fühle ich mich besser“, sagt Fruth leicht amüsiert. So nutzt er das Large Language Model von ChatGPT als Ventil, über das er Dampf ablässt, und gleichzeitig als Produktivitätstool, das seine Kommunikation beschleunigt. „Ich war ein wahnsinnig schlechter Schüler“, erzählt der Unternehmer. „Weil ich gar keinen Bock auf Schule hatte. Ich war stinkefaul.“ Doch oft seien es Schüler wie er, die später im Berufsleben reüssieren. „Die sind es gewohnt zu optimieren“, sagt Fruth. Für ihn ist Künstliche Intelligenz eine Lösung, aber zu Ende optimiert hat auch er sie noch lange nicht.


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Sebastian Wolking
Bildnachweis: piranka / iStock