Creditreform Magazin

So lassen sich Lieferketten stabilisieren

Nachdem die Wirtschaft wieder Fahrt aufgenommen hat, wird sie von Materialmangel und gestörten Lieferketten gebremst. Ökonomen sprechen bereits von einer „Flaschenhals-Rezession“. Was tun? Wie sollten Unternehmen ihre Beschaffung umstellen und ihre Lieferketten mit Blick auf das Jahr 2022 sichern?

Ferdinand Munk ist seit 40 Jahren Unternehmer. „Nie hatten wir Probleme, die Materialien zu bekommen, die wir für unsere Produktion benötigen“, berichtet der Inhaber der Munk Group. Die 380-Mitarbeiter-Firma im bayerischen Günzburg stellt Leitern aller Art für Industrie- und Handwerksbetriebe und den Privatbedarf her, Feuerwehrleitern für Blaulichtorganisationen und Dockanlagen für die Flugzeugwartung – „und alle anderen Möglichkeiten, irgendwo rauf- oder runterzusteigen“, sagt der 60-Jährige lächelnd. In den vergangenen 16 Monaten aber hat der Mittelständler unter enormen Lieferengpässen gelitten, vor allem bei beschichtetem Holz. Sägewerke konnten die gestiegene Nachfrage durch die überraschend schnell angesprungene Konjunktur nicht mehr bedienen, Großunternehmen kauften auf, was zu kriegen war, kleinere Firmen gingen leer aus.

„Wir sind jetzt nicht mehr nur Kunde, sondern Partner unserer Lieferanten.“
Ferdinand Munk, Munk Group

Damit das Familienunternehmen künftig nicht mehr auf dringend benötigte Ware warten muss, hat Ferdinand Munk seine Einkaufsstrategie geändert: Er hat für 2022 mit vier Lieferfirmen, einem Holz- und einem Aluminiumwerk, einer Spedition und einem Laser- und Stanzbetrieb, neue, langfristige Verträge gemacht: „Wir sind jetzt nicht mehr nur Kunde, sondern Partner unserer Lieferanten, sind mit ihnen intelligent vernetzt, planen mit ihnen unsere Jahreskontingente und stimmen uns monatlich mit ihnen ab.“ Sein Betrieb wisse jetzt, dass künftig alle bestellten Mengen garantiert kommen – und die Partner, dass sie nicht auf Ware sitzen bleiben: „Zur Not erhöhen wir unsere eigene Lagerhaltung.“

Langfristige persönliche Zusammenarbeit zahlt sich aus

Die Reaktion des bayerischen Mittelständlers auf die Supply Chain-Krise klingt wie aus dem Lehrbuch: Munk hat aus relativ losen Geschäftsverbindungen sehr enge gemacht, hat sich Liefersicherheit geschaffen, kann jetzt langfristiger planen und hat keinen Stress mehr mit Ad-Hoc-Maßnahmen und möglicherweise unzufriedenen Abnehmern, die seine Solidität infrage stellen. „Das beruhigt“, sagt der Firmenchef. 

Ein zweites Beispiel aus Nordrhein-Westfalen: In einem metallverarbeitenden Betrieb ging zeitweise nichts, weil Stahl- und Aluminiumbleche fehlten. Keiner der jahrelang genutzten inländischen Zulieferer hatte noch Material. Das Management schaute sich nach Alternativen um. Fündig wurde man in der Slowakei, Türkei und in Österreich. Man orderte, wo immer man konnte, selbst wenn von den Kunden noch nicht alle Materialfreigaben vorlagen. Mit Erfolg: Der Betrieb konnte fast alle Termine einhalten, kein Kunde ging verloren. Ins Jahr 2022 geht das Werk nun mit erneuerten Lieferketten. Für Peter Grosse, Interim Manager und Berater für globales Supply Chain Management, „ein gutes Beispiel für einen agilen Betrieb mit Offenheit für neue, bisher ungenutzte Wege“. Der Fall zeige: „Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen überholen die Langsamen.“ Mittelständler hätten bei diesem Rennen gegen Großunternehmen die besseren Laufschuhe. Allerdings favorisiert Grosse, einst Einkäufer für technische Komponenten bei IBM, später bei Motorola und als Manager auf Zeit in der Windenergie, Medizintechnik und im Schiffbau tätig, kurzfristige Beschaffung nicht dauerhaft. Im Gegenteil: „Kontinuierliche, vertrauensvolle und persönliche Zusammenarbeit zahlt sich aus. Dafür reichen aber keine Mails, dafür muss man sich in die Augen schauen oder mindestens telefonieren.“

Teurere Receiver und Autos ohne Navigationssystem

In den kommenden Monaten wird sich die Supply-Chain-Problematik nicht lösen: Noch immer warten vor vielen Häfen in China und den USA Frachtschiffe tagelang auf ihre Abfertigung, auf den Kais stapeln sich die Container. Deshalb werden verarbeitenden Unternehmen auch in Deutschland dringend benötigte Güter weiterhin fehlen. Die Historie der Misere: Zuerst war es Bauholz. Geringes Angebot, hohe Nachfrage, steigende Preise. So kletterten die Bau- und Renovierungskosten in Deutschland innerhalb eines Jahres um rund 13 Prozent. 

Auch Chips fehlen. Das trifft E-Bike-Hersteller, die IT-Branche, den Automobilbau und deren Kunden: Receiver und Lautsprecher sind um bis zu 55 Prozent teurer als vor einem Jahr, einige Grafikkarten kosten sogar 80 Prozent mehr. Und die Autohersteller? Die liefern auch schon mal unvollständige Fahrzeuge aus, beispielsweise ohne Navigationssystem. Und auch sonst fehlt es an allen Ecken und Enden: Es gibt kein Kunststoffgranulat für Griffschalen, kein Polstermaterial für Sessel, im Baumarkt sind Bohrhammer ausverkauft und Ikea hat zu wenig Billy-Regale. 

Selbst Papier und Verpackungsmaterialien sind momentan knappe Güter. Zellstoff, ein wichtiger Rohstoff der Papierherstellung, fehlt. Und auch Altpapier gibt es kaum, weil in der Corona-Pandemie weniger angefallen ist. Petra Moritz, Produktmanagerin in der Papierfabrik Meldorf in Tornesch (140 Mitarbeiter), kann ein Lied davon singen. Obwohl ihre zwei Papiermaschinen rund um die Uhr auf Hochtouren laufen, lassen sich viele Aufträge „nur mit langen Lieferzeiten realisieren“. Sie sieht auch keinen Silberstreif am Horizont: „Die üppige Nachfrage nach Verpackungsmaterial durch den Onlinehandel wird auch in den kommenden Monaten nicht nachlassen.“

Eine neue Situation für Unternehmen und Verbraucher in Westeuropa. Jahrzehntelang kannten sie keinen Mangel an Produkten, jetzt hat Covid 19 den Wirtschaftskreislauf durcheinandergewirbelt. In einer Umfrage des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik und der Beratungsfirma Expense Reduction Analysts klagen 72 Prozent der Unternehmen über Frachtengpässe, je 67 Prozent über Lieferantenausfälle und steigende Kosten. Laut KfW Research kämpft jedes Zweite der rund 3,8 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland mit den Folgen von Lieferproblemen. 

Neue Verträge, Digitalisierung oder 3D-Drucker?

Am stärksten betroffen sind, so Hans-Jürgen Völz, Chefvolkswirt des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW), Betriebe in arbeitsteiligen Branchen, die auf Zulieferung von Materialien angewiesen sind, die weiterverarbeitet oder zur Veredelung von Gütern genutzt werden: „Hier standen die Bänder am längsten still.“ Viele dieser Unternehmen investierten jetzt in den Aufbau neuer Kooperationsbündnisse und größere Autonomie „durch eine stärker diversifizierte Eigenproduktion und den Aufbau längerer Lagerkapazitäten“. Das bedeute zwar höhere Kosten und geringere Rendite, doch die Firmen nehmen das in Kauf. Völz: „Vielerorts ist die bloße Verfügbarkeit von Vorprodukten wichtiger als deren Preis.“ Das schürt die Inflation, führt möglicherweise sogar zur Stagflation. Seit August stottert der Aufschwung. Laut Statistischem Bundesamt gingen aufgrund der „Lieferkettenprobleme und des allgemeinen Materialmangels“ bei der Industrie 7,7 Prozent weniger Aufträge ein als im Juli. Ifo-Präsident Clemens Fuest spricht von einer „Flaschenhals-Rezession“. Und die kann dauern. „Derzeit entspannt sich gar nichts“, konstatiert Tobias Hempelmann vom Verband des Deutschen Zweiradhandels. Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Bank, geht davon aus, dass die Lieferkettenstörungen frühestens im Sommer 2022 beseitigt sind. Und Peter Wüst, Chef des Handelsverbands Heimwerken, Bauen und Garten, befürchtet sogar, dass es zwei bis drei Jahre dauern wird, bis wieder normale Zeiten eintreten.

Was können kleine und mittelgroße Betriebe also tun? Zunächst gilt es, die bestehende Lieferkette zu analysieren, das heißt alle Glieder vom Hersteller eines Produkts, Vorprodukts oder eines Rohstoffs über den Lieferanten und Distributor bis zu Geschäftspartnern und Kunden. Welche Abläufe haken? Brauchen sie eine neue Struktur, neue Prozesse, neue Verträge oder neue Akteure? Setzen sie künftig statt nur auf einen Lieferanten auf Multi-Sourcing? Was ist wichtiger? Ein teures Produktdesign, wie es die Marketingabteilung möchte, eine Verpackung, die schnell, materialsparend und günstig hergestellt ist, wie es der Produktionsleiter vorschlägt, oder eine für den Weitertransport optimierte Verpackung, wie sie die Logistikleute präferieren? Ist ein 3D-Drucker ein sinnvolles Investment, um beispielsweise dringend benötigte Ersatzteile selbst anfertigen zu können? Ist eine digitale Transformation der Supply Chain sinnvoll, um allen Beteiligten mehr Transparenz zu bieten und schneller auf Veränderungen reagieren zu können?


Worin Unternehmen 2021 die größten Wachstumshindernisse sahen:

  • Gestörte Lieferketten - 72 %
  • Steigende Kosten - 67 %
  • Lieferantenausfälle - 67 %
  • Fachkräftemangel - 66 %
  • Digitalisierungsrückstände - 57 %
     

Quelle: Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e. V.; Expense Reduction Analysts 


Größere Transportmengen, größere Läger

Die Supply-Chain-Thematik wird auch in den Fachkommissionen des BVMW seit Monaten diskutiert. Völz: „Zusammen mit unseren Beratern informieren wir, vernetzen und geben beispielsweise Hinweise zu neuen Kooperationsverbünden, um durch Einkaufsgemeinschaften bessere und schnellere Konditionen zu bekommen, die helfen, Lieferengpässe zu vermeiden.“ Andreas Baur, Mitautor einer ifo-Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung über globale Wertschöpfungsketten, denkt noch eine Nummer größer: „Eine mittelstandsfreundlichere Ausgestaltung von Handelsabkommen kann einen wichtigen Beitrag zu robusteren Lieferketten leisten.“

„Die Senkung des Working Capital und die Just-in-Time-Philosophie sind nur sinnvoll, solange die Wirtschaft wie geschmiert läuft.“
Peter Grosse, Supply-Chain-Berater

Ein anderes Glied der Lieferkette bietet sich ebenfalls zur Justierung an. „Viele Firmen planen, ihre Lagerhaltung auszubauen“, beobachtet Lisandra Flach, Leiterin des ifo-Zentrums für Außenwirtschaft. Peter Grosse hält das für richtig. Ein größeres Lager binde zwar Kapital, stärke aber die Materialversorgungssicherheit. „Die Fixierung auf die Senkung des Working Capitals, die zur Just-in-Time-Philosophie geführt hat, ist nur sinnvoll, solange die Wirtschaft wie geschmiert läuft. Bei größeren Problemen wie durch Corona ausgelöst steht man just im Stau und die Produktion still.“

„Experten für innovative Supply-Chain-Lösungen werden momentan händeringend gesucht.“
Erdwig Holste, Management Angels

Auch durch externe Unterstützung können Betriebe ihre Lieferketten optimieren. Erdwig Holste, Geschäftsführer der Personalberatung Management Angels, die Führungskräfte wie Peter Grosse auf Zeit vermittelt, weiß: „Experten für innovative Supply-Chain-Lösungen werden momentan händeringend gesucht. Gebraucht werden Fachleute, die schnell operative Erfahrung einbringen und gleichzeitig querdenken, neue Ideen mitbringen, frischen Wind in etablierte Organisationen bringen. Interim Manager sind gewohnt, die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen.“ Nach Überzeugung von Holste rechnet sich eine Führungskraft, die für drei, sechs oder neun Monate und länger als Freiberufler in einen Betrieb kommt, sehr schnell: „Wer jetzt seine Lieferketten neu organisiert, macht sich widerstandsfähiger für die nächste Krise, die garantiert kommt.“ Zusatznutzen: Das Supply-Chain-Know-how, das ein externer Manager mitbringt, bleibt auch nach dem Projektabschluss im Unternehmen. 


Bereit für 2022?

Was Unternehmen tun können, um ihre Lieferketten 2022 zu stärken. Fünf Tipps von Peter Grosse, Supply-Chain-Experte, Interim Manager und „umsetzungsorientierter Berater“ mit seinem Unternehmen Seaside Engineers in Rabenkirchen-Faulück.

  1. Überdenken Sie Ihre Bevorratungsstrategien. Gezielt aufgebaute Lagerbestände können helfen, Beschaffungsrisiken abzumildern.
  2. Nur eine einzige Lieferquelle ist gefährlich. Schauen Sie sich nach weiteren, alternativen Lieferanten um – auch in anderen Regionen.
  3. Lerne von den Besten. Resiliente Lieferketten kommen nicht von ungefähr. Nicht immer ist der Stammlieferant auch der Richtige, wenn es um neue Herausforderungen geht.
  4. Bleiben Sie am Ball und verfolgen Sie, was sich bei Ihren Lieferanten tut. Schon vermeintlich kleine Probleme in den Lieferketten können eine große Wirkung haben. Reagieren Sie deshalb schnell und konsequent, abwarten macht vieles meistens nur schlimmer.
  5. Nehmen Sie Hilfe von externen Lieferkettenspezialisten in Anspruch. Die kosten zwar etwas, rechnen sich aber sehr häufig.


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Jürgen Hoffmann



Creditreform Kempten/Allgäu Winterstein KG