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Wann wird die Lücke zum Abgrund?
Die Babyboomer gehen, Nachwuchskräfte fehlen. Trotz großer Anstrengungen schaffen Unternehmen und Politik es nicht, die Fachkräftelücke zu schließen. Warum das Land ins Desaster schlittert und wie Firmen gegensteuern können.
Sabine Cox fühlt sich ausgebremst. „Wenn wir mehr hochqualifizierte Mitarbeiter einstellen könnten, würden wir einen höheren Umsatz erzielen“, sagt die Directorin HR beim Bonner IT-Dienstleister Conet. Die Unternehmensgruppe mit insgesamt 1.700 Arbeitnehmern an 21 Standorten in verschiedenen Ländern bekommt den Fachkräftemangel massiv zu spüren – obwohl Conet als Great Place to Work prämiert ist und in Sachen Mitarbeiterakquise und bindung extrem viel unternimmt.
Zum Beispiel ist Conet Mitte Mai von Hennef, einer Kleinstadt im Rhein-Sieg-Kreis, an einen äußerst attraktiven Standort rund 25 Kilometer weiter nach Bonn gezogen. Eine Etage allein ist als Meeting Area konzipiert, die Arbeitsplätze sind offen und nach ergonomischen Kriterien gestaltet. Das Unternehmen bietet Homeoffice wie auch zwei Monate Workation in Europa pro Jahr.
Flexible Arbeitszeiten, Deutschlandticket, Jobrad, Zusatzversicherungen oder Hardwareleasing sowie Coaching- und Mentoringmaßnahmen sind für die Mitarbeiter inklusive. Der Dienstleister interessiert sich für Quereinsteiger, für Studienabbrecher wie auch für ältere Arbeitnehmer sowie für Bewerber aus dem Ausland. Und dennoch: „Wir haben bei der Akquise von Fachkräften sicherlich einen Flaschenhals“, sagt Cox.
Die IT-Branche gehört zu den Bereichen, die in besonderem Maße mit dem Fachkräftemangel kämpfen. Neben den MINT-Berufen – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – sind aber auch die Segmente Gesundheit, Soziales, Erziehung überproportional betroffen. Das bestätigen führende Forschungsinstitute in zahlreichen Studien, unter anderem das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) oder das ifo-Institut in München.
Vor allem Akademiker fehlen
Bei der ifo-Konjunkturumfrage im August dieses Jahres unter 9.000 deutschen Firmen offenbarten mehr als 40 Prozent der Unternehmen, zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte gewinnen zu können. Laut dem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) bestehen insbesondere Probleme darin, Akademiker mit Master oder Diplom zu finden. Im vergangenen Jahr konnten 630.000 offene Stellen nicht besetzt werden, weil es zu wenig Arbeitslose mit der gesuchten Qualifikation gab. Angebot und Nachfrage passen nicht zusammen.
Die Situation verschärft sich in den nächsten Jahren immer weiter, „weil sich die Babyboomer in den Ruhestand verabschieden“, sagt Nicolas Bunde, Arbeitsmarktexperte des ifo Zentrums für Industrieökonomik und neue Technologien in München. Deutschland verliert nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einer Dekade bis zu sieben Millionen Arbeitskräfte. „Selbst wenn die Produktivität steigt, bleibt wohl eine Lücke bestehen“, sagt Ulf Rinne, Arbeitsmarktforscher am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn.
Diese dürfte bei Unternehmen in ländlichen Regionen in der Regel größer ausfallen als für Großkonzerne mit Sitz in den Metropolen oder zumindest in Städten und Regionen mit mehreren Hunderttausend Einwohnern. „Viele junge Menschen wollen trotz Homeoffice und geringeren Mieten lieber in belebteren Gebieten mit entsprechenden Freizeitangeboten wohnen. Insbesondere in den östlichen Regionen haben die Firmen es schwer, ihren Bedarf zu decken“, sagt Bunde.
Das KOFA analysierte im vergangenen Jahr zum Beispiel für den Bereich Elektroberufe, in welchen Städten und Kreisen mehr oder weniger ein Stellenüberhang besteht – wo also Arbeitsplätze nicht mehr mit qualifizierten Arbeitslosen aus der Region besetzt werden können. Eine sogenannte Stellenüberhangsquote von mehr als 60 Prozent zeigte sich in weiten Teilen des Ostens. Auffallend niedrig lag die Quote nur in Berlin, während Kreise wie Schwerin und Neubrandenburg dunkelrot ausfallen. Ähnlich schlecht ist die Lage in den Regionen um Passau, Bayreuth oder Landshut in Bayern.
Bei Großunternehmen in den Metropolen sieht es häufig besser aus. Junge Menschen versprechen sich dort mehr Gehalt, bessere Aufstiegschancen und eine sichere Perspektive. Die Mittelständler leiden, auch die Hidden Champions. Extrem gebeutelt sind zum Beispiel Maschinenbauer. Die Branche kämpft um jeden Ingenieur. Die Firmen arbeiten teilweise auf Sparflamme, weil Personal knapp ist. „Die Maschinenbauer können ihre Mitarbeiter nicht einfach ins Homeoffice schicken. Junge Menschen wünschen sich aber mehr Flexibilität statt Schichtarbeit. Deshalb stellt der Fachkräftemangel eine große Herausforderung für die Betriebe dar“, sagt Bunde.
Lösungsansätze liegen auf dem Tisch, aber keine durchschlagend erfolgreichen. Unternehmen, Politik und der Nachwuchs selbst sind gleichermaßen gefordert, das Problem in den Griff zu bekommen. Wenn nicht alle an einem Strang ziehen, sinkt der Wohlstand – so fürchtet die KfW.
Mehr Einwanderer gewünscht
Der Bundesrat hat im Juli das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen. Ab November 2023 greifen erste Maßnahmen. Einwandern kann, wer eine staatlich anerkannte Berufsausbildung absolvierte und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung vorweisen kann. Der Abschluss muss nun aber nicht mehr formal in Deutschland anerkannt sein, was die Einwanderung beschleunigen soll. Außerdem kommt ab Mitte 2024 die Chancenkarte zur Arbeitssuche. Für bestimmte Kriterien wie Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug, Alter und mitziehende Lebens- oder Ehepartner gewährt man Punkte. Ab sechs Punkten können Expats einen Antrag für einen Aufenthaltstitel stellen.
Wie viel das neue Gesetz bringt, weiß keiner. „Die Reform geht aber in die richtige Richtung und kann helfen“, sagt Professor Axel Plünnecke, Leiter des Clusters Bildung, Innovation, Migration beim IW Köln. Ein Befreiungsschlag scheint sie nicht zu sein. Vor allem die noch immer hohen Anforderungen an Sprachkenntnisse – obwohl sie mit dem Gesetz herabgesetzt wurden – und die Unsicherheit über die Anerkennung von Schulabschlüssen und Berufsausbildungen bleiben weiterhin Handicaps für Einwanderer. Komplizierte und langwierige Verwaltungsverfahren sind für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) wesentliche Hemmnisse für Migration.
Zu viel Bürokratie beklagt auch Sabine Cox von Conet.
Sie glaubt ohnehin nicht, dass die Neuregelungen ihrem Unternehmen helfen: „Wir haben keine Willkommenskultur und kein attraktives Programm, gerade für außereuropäische Potenzialträger.“ Deshalb sei Deutschland für Fachkräfte aus dem Ausland wenig attraktiv. Conet konkurriert mit Wettbewerbern nicht nur in Deutschland, sondern sucht auf dem gesamten EU-Arbeitsmarkt und in der Schweiz. „Wir fischen alle im gleichen Markt“, so die Personaldirektorin. Das sei ein Problem.
Deutschland hinkt hinterher
Denn andere Länder machen es besser: Das Netzwerk Internations hat im vergangenen Jahr Auswärtige nach ihrer Zufriedenheit gefragt. Deutschland schnitt dramatisch schlecht ab. In keinem Punkt der Studie „Expat Insider 2023“ belegt die Bundesrepublik einen der vorderen Plätze, sondern rangiert ganz weit hinten. 30 Prozent der Befragten bestätigen die These von Cox, die Menschen in Deutschland seien ausländischen Einwohnern gegenüber wenig freundlich. Der beste Platz für Migranten scheint Mexiko zu sein. Die Karrierechancen dort schätzen die Befragten als gut ein, die Bezahlung fair, die Work-Life-Balance positiv. Man findet schnell Freunde. Wohnraum ist günstig, die Lebenshaltungskosten sind moderat. Die Expats nehmen die instabile politische Situation dafür in Kauf. Nun liegt Mexiko weit weg auf der anderen Seite des Ozeans. Doch auch innerhalb Europas zeigen sich gravierende Unterschiede. Ausgewanderten Erwerbstätigen gefällt Spanien, trotz fehlender Karrierechancen. Nordländer wie Schweden oder Finnland sind wegen der gesicherten Kinderbetreuung und aufgrund höherer Erwerbsquoten von Frauen deutlich besser aufgestellt. Ebenso rangiert die Schweiz weit vor Deutschland – auch weil die Eidgenossen in Sachen Digitalisierung mehrere Schritte voraus sind. Ein Aspekt, der nicht nur für die Migration von Bedeutung ist.
Vielmehr kann Digitalisierung den Bedarf an Fachkräften in den Unternehmen senken und dazu beitragen, das Arbeitsvolumen zu flexibilisieren. Diesen Ansatz verfolgt Fickenschers Backhaus in Münchberg, ein Betrieb mit einer Tradition von 400 Jahren. Die Bäckerei beschäftigt 120 Mitarbeiter in zehn Filialen. „Wir konnten aufgrund der Nachtarbeit keine neuen Auszubildenden und keine Bäcker mehr gewinnen. Wir haben dann überlegt, wie wir unsere Arbeitszeiten entzerren und normalisieren können“, sagt Geschäftsführer Andreas Fickenscher. Das gelang durch den Einsatz modernster Technik im Produktionsprozess. Die Bäckerei stellt Backwaren naturbelassen ohne Zusatzstoffe wie vor 300 Jahren her. Damit haben die Produkte eine verlängerte Reifezeit. Diese Stunden legt Fickenscher in die Nacht. „Zum Beispiel ruht unser Sauerteig in thermisch abgeriegelten Behältern, zu bestimmten Zeiten dann wird ihm maschinell und automatisch Wasser und Mehl zugeführt. Zu den üblichen Arbeitszeiten verarbeiten wir dann den optimal gereiften Teig zu Brot“, sagt Fickenscher. Für die Mitarbeiter gibt es keine ungeliebten Nachtschichten mehr.
Der Bäcker sieht sich damit in puncto Fachkräftesicherung gut aufgestellt, allerdings nicht ohne Schattenseiten. Der Grund: Nachtarbeitszuschläge bleiben steuer- und sozialversicherungsfrei. Die Mitarbeiter aber wollen, wenn diese wegfallen, nicht auf Nettogehalt verzichten. Also muss der Betrieb die Lücke ausgleichen, um sie zu halten. Damit sind die Personalkosten mit der Automatisierung gestiegen. Fickenscher bietet dem Team auch eine ganze Reihe steuerfreier Extras wie eine kostenlose Bahncard 50 oder Einkaufsgutscheine. „Das müssen wir, um die Beschäftigten an uns zu binden. Wir konkurrieren ja nicht nur innerhalb unserer eigenen Branche, sondern generell auf dem engen Arbeitsmarkt“, sagt er.
Bekanntheitsgrad steigern
Der Unternehmer macht es richtig. „Kleine und mittlere Unternehmen sollten sich überlegen, wie sie sich als Arbeitgeber attraktiv positionieren und wie sie ihren Bekanntheitsgrad steigern können“,
empfiehlt Sonja Müller, Leitung Fachkräftesicherung beim RKW Kompetenzzentrum in Eschborn. Die Digitalisierung ist da ein Faktor. „Universitätsabsolventen, die von vielen Firmen gesucht werden, wollen bei fortschrittlichen Unternehmen arbeiten oder solchen, die ihnen eine persönliche Entwicklung ermöglichen“, sagt Müller. Darüber hinaus wird es wichtig sein, bedarfsgerecht die eigenen Mitarbeiter weiter zu qualifizieren. So macht es Conet. Der IT-Dienstleister legt gesteigerten Wert auf ein hohes Ausbildungsniveau – und arbeitet daran, seine Teams stetig weiterzubilden.
„Wir wollen keine prekären Arbeitsbedingungen“
Drei Fragen an Ulf Rinne. Er forscht am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn und plädiert dafür, tarifgebundenen Unternehmen Erleichterungen zu gewähren, um mehr Fachkräfte nach Deutschland zu locken.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist durch, ab dem kommenden Jahr tritt es in Kraft. Bringt das den Unternehmen einen Fortschritt?
Eine höhere Erwerbsmigration – vor allem aus Drittstaaten – kann einen Teil des Fachkräfteproblems lösen. Für eine Stabilisierung stellt sie einen wichtigen Faktor dar. Aber der Durchbruch ist nicht zu erwarten. Zwei Hürden für mehr Zuwanderung bleiben: Das sind zum einen die hohen Anforderungen an die Sprachkenntnisse und zum anderen die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse.
Was könnte die Situation verbessern?
Wir schlagen eine deutliche Vereinfachung der Einwanderungsbedingungen vor. Eine befristete Arbeitserlaubnis könnte an ein vorliegendes Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebot in einem tarifgebundenen Unternehmen gekoppelt sein. Das steigert die Attraktivität von Deutschland als Einwanderungsland.
Warum unbedingt eine Tarifbindung?
Das beugt der Gefahr von Arbeitsmarktsegregation vor. Wir vermeiden also, dass bestimmte Tätigkeiten nur von Einwanderern und Einwanderinnen zu niedrigen Löhnen erledigt werden. Wir wollen keine prekären Arbeitsbedingungen.
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Eva Neuthinger
Bildnachweis: Martin Barraud/ iStock