Nach grün kommt gut

Engagement für Mitarbeiter und Gesellschaft ist bei vielen Unternehmen tief verwurzelt. Doch mit neuen Richtlinien und Gesetzen rund um Nachhaltigkeit und Sorgfaltspflichten stehen sie nun vor der Frage: Braucht es jetzt eine Strategie für gesellschaftlichen Mehrwert und wie macht man so etwas zählbar?

"Wer mobbt, hat bei VW schlechte Karten“, schrieb die Tageszeitung „die taz“ im Juli über einen Artikel, der die Ergebnisse einer Betriebsratsvereinbarung beim Wolfsburger Autobauer zusammenfasste. Im Jahr 1996 wohlgemerkt. Manche erinnern sich vielleicht an damals: Berti Vogts führte die deutsche Nationalmannschaft zum EM-Sieg im Londoner Wembley-Stadion, Steffi Graf gewann zum siebten Mal in Wimbledon. Der russische Präsident Boris Jelzin war gerade wiedergewählt worden und Helmut Kohl stritt mit seinen Ministern Volker Rühe und Theo Waigel über den Wehr-Etat. Nachhaltigkeit war noch kein Thema und das Kürzel ESG weitgehend unbekannt.  

Umso bemerkenswerter, dass etwa zur selben Zeit der Wäscherei- und Textilservice-Anbieter Sitex im ostwestfälischen Minden schon diesbezüglich aktiv wurde. Der Auslöser: Hoyerswerda. Ein Name, der sich im Jahr 1991 in das kollektive Gedächtnis Deutschlands einbrannte. Mit der Attacke auf Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft begann eine Reihe rassistischer Übergriffe mit teils tödlichen Folgen, die auch Sitex-Geschäftsführer Stephan Richtzenhain in trauriger Erinnerung geblieben sind: „Wir haben von Anfang an gesagt, wir ­müssen etwas tun, um Anschläge wie diese zu verhindern,“ sagt er. „Alles andere wäre schlecht für Deutschland.“ Richtzenhain fand Mitstreiter. Gemeinsam gründete man ein Jugendzentrum in einem Brennpunktstadtteil und engagierte einen Streetworker, um sozialen Spannungen entgegenzuwirken.  

Beide Beispiele – VW und Sitex – zeigen: Engagement für Mitarbeiter, Bürger und Gesellschaft gibt es, seit es Unternehmen gibt. Doch im Schatten von Klimaschutz und Dekarbonisierung ist diese Dimension der Nachhaltigkeit in den vergangenen Jahren kaum beachtet worden. Das S wie Social in ESG wird weit weniger wahrgenommen als das E wie Environment und das G wie Governance.  

Vielleicht liegt es daran, dass Umweltschutz leichter gemessen werden kann als soziale Aspekte und Governance ohnehin einen festen Platz im Unternehmen hat. Doch soziale Nachhaltigkeit gewann in den vergangenen Monaten ungleich stark an Bedeutung. Man könnte sogar sagen: Wäre das S ein Musiker, hätte es im Frühling dieses Jahres seinen ersten Nummer-Eins-Hit gelandet – und zwar am 24. April, als die neue EU-Lieferkettenrichtlinie Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) in Brüssel verabschiedet wurde. Die neue Gesetzgebung richtet den Blick ungleich intensiver auf soziale Aspekte – beziehungsweise darauf, wie Unternehmen künftig darüber berichten müssen.   

Tief im Arbeitsrecht verankert 

Denn vieles von dem, was gefordert ist, existiert bereits. Einzig, es fehlt an Struktur und Systematik. Ein Grund, soziale Nachhaltigkeit voranzutreiben, ist etwa der Anspruch von Konzernen und Mittelständlern, die Gesellschaft mitzugestalten und das Zusammenleben zu verbessern, geltendes Arbeitsrecht ist ein anderer. Fachanwältin Kathrin Kruse von der Kanzlei Bird & Bird sagt: „Gleichbehandlung sowie der Schutz von Schwangeren und Whistleblowern etwa – das sind alles Themen, die man bisher oft nicht unter dem Aspekt soziale Nachhaltigkeit betrachtet hat.“ Auch hinter dem Engagement von VW steht ein Gesetz, das Arbeitgeber in die Pflicht nimmt, übergriffiges Verhalten gegen Frauen zu verhindern. „Was soziale Nachhaltigkeit angeht, sind die arbeitsrechtlichen Schutzstandards in Deutschland schon sehr hoch“, sagt die Anwältin.  

Anders sieht das möglicherweise bei den Wertschöpfungsketten aus. Hier stehen auch deutsche Unternehmen immer wieder in der Kritik: Laut einer Studie von Transparency International vom April 2023 beliefern deutsche Anlagen- und Maschinenbauer Unternehmen und Staaten, denen schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Im November vergangenen Jahres legte die Hilfsorganisation Oxfam Beschwerde beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) gegen die Handelsunternehmen Rewe und Edeka ein. Die Supermarktketten sollen Hinweisen auf mangelnden Arbeitsschutz und Dumpinglöhne bei der Bananenernte nicht nachgegangen sein. Und im März 2024 veröffentlichte die ARD einen Bericht, demzufolge mehrere deutsche Autobauer auf der Suche nach wichtigen Rohstoffen Menschenrechtsverletzungen in Kauf nehmen. 

Zukunftsthema soziale Nachhaltigkeit  

Alles mutmaßliche Verstöße, mit denen Schluss sein sollte. Seit dem ersten Januar 2024 gilt in Deutschland das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) für Unternehmen mit mindestens 1.000 Beschäftigten. Zwar wird das Gesetz aktuell entsprechend der neuen EU-Lieferkettenrichtlinie überarbeitet. Der Bundesregierung zufolge soll es entschlackt werden und der Kreis der betroffenen Unternehmen verringert. Trotzdem sollten sich Firmen darauf einstellen, dass sie künftig sehr viel detaillierter über soziale Nachhaltigkeit berichten und ihre Anstrengungen belegen müssen. Beide Regelwerke sehen außerdem eine zivilrechtliche Haftung vor, geschädigte Personen können europäische Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette verklagen. Arbeitsrechtlerin Kruse ist sich sicher: Zwar dominierten Klima- und Umweltschutzfaktoren noch die ESG-Debatte hierzulande aktuell. „Aber das wird sich ändern, sobald die ersten NGOs Klagen wegen Arbeitsrechtsverstößen in der Lieferkette einreichen.“ Hinzu kommt die Sozial-Taxonomie der EU, die gerade erarbeitet wird. Sie soll ähnlich wie die bereits geltende Umwelttaxonomie sozial nachhaltiges Wirtschaften definieren, um Kapitalströme in solche Unternehmen und Wirtschaftstätigkeiten zu lenken, welche die Menschenrechte und das Wohl der Gesellschaft respektieren. 

LkSG – Kontrolle und Sanktionen

Zuständige Behörde ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) 

  • Abgabe des Berichts über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten spätestens vier Monate nach Ende des Geschäftsjahres an das BAFA
  • Berichtsprüfung durch das BAFA 
  • Bußgelder bei Verstößen (vorsätzlich oder fahrlässig) gegen Sorgfaltspflichten und Berichtspflichten:
    - in der Regel bis zu 800.000 Euro 
    - in bestimmten Fällen bis zu 8 Millionen Euro- bis zu 2 Prozent des Jahresumsatzes bei Unternehmen mit mehr als 400 Millionen Euro Jahresumsatz 
  • Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge für bis zu drei Jahre, wenn ein Bußgeld von einer bestimmten Mindesthöhe verhängt wurde. Schwellenstufe je nach Schwere des Verstoßes:– 175.000 Euro bzw. 1,5 Millionen Euro– 2 Millionen Euro– 0,35 Prozent des Jahresumsatzes 

Kultureller Wandel notwendig 

Der Blick auf bessere Standards in Unternehmen und deren Lieferketten ist eine Sache. Doch Unternehmen stehen vor einer weiteren Hürde. Eine Umfrage  der Wirtschaftsberatungsgesellschaft KPMG unter 200 Firmen aus der Automobil- und Fertigungsindustrie, des Infrastrukturmarktes sowie aus der Transport- und Logistikwirtschaft zeigt, dass die größte Herausforderung darin liegt, ESG-Aspekte in die Geschäftsstrategie zu integrieren. Dies geben 67 Prozent der befragten Firmen an.  

Victoria Riess berät Vorstände, die das Thema ESG strategisch angehen wollen. Die Unternehmen, mit der die Strategieberaterin und Cambridge-MBA-Absolventin arbeitet, entstammen dem Mittelstand oder sind Großkonzerne. Ihr fällt auf: „Sie haben verschiedene Stadien ihrer ESG-Reife durchlaufen.“ 93 Prozent von ihnen verfügten zwar bereits über mindestens eine ESG-Kennzahl, welche die Entwicklung des Themas darstellt. Aber: ESG würde noch zu häufig unter dem Risikoaspekt betrachtet, gibt Riess zu bedenken – und als einzelne Projekte, die lose durch die Organisation treiben. „Ein ESG-KPI allein stößt nicht den kulturellen Wandel an, den Unternehmen für eine nachhaltige Strategie benötigen. Es ist Zeit für einen ESG- und Nachhaltigkeitsansatz, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt.“  

Wer von großen Namen lernen möchte und sehen will, wie Nachhaltigkeit zur Geschäftsstrategie werden kann und wie sie in andere Länder getragen werden kann, der landet schnell bei Vaude. Antje von Dewitz, die Geschäftsführerin des Outdoor-Bekleidungsherstellers verfolgt seit vielen Jahren Umwelt- und Klimaschutzprojekte in ihrem Unternehmen. Dass Vaude in diesem Jahr mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis in der Branche Textilien ausgezeichnet wurde, ist keine Überraschung, sondern eine logische Konsequenz.  

Doch so wie Vaude früh über ökologische Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Klimaschutz und Co. nachgedacht hat, ist das Unternehmen nun auch bei sozialer Nachhaltigkeit vielen Konkurrenten voraus. Jüngst erhielt es erhielt einen Sonderpreis im Transformationsfeld „Wertschöpfungskette.” Laut der Jury halte Vaude höchste Sozialstandards in der Lieferkette ein, kläre über sensible Themen wie Arbeitsbedingungen in Asien auf, mache sich politisch stark für sozialgerechte Veränderungen wie ein starkes europäisches Lieferkettengesetz. Lobend erwähnt wurde auch die Tatsache, dass Vaude sein Wissen über nachhaltiges Wirtschaften an andere Unternehmen weitergibt.  

Neue Kennzahlen über alle Ebenen  

Unternehmen, die noch nicht so weit sind, empfiehlt Victoria Riess, neue Transformations-KPIs zu implementieren, die den Prozess des ESG-Kulturwandels messen. „Es lohnt sich, einen Schwerpunkt auf eine breite Palette von neuen informellen Transformations-Leistungskennzahlen zu legen“, sagt die Beraterin. „Und zwar über alle Ebenen der Organisation hinweg, anstatt nur auf enge finanzielle und formale Kennzahlen.“ Ihr Fokus solle auf Lernen und Entwicklung liegen sowie auf kontinuierlicher Kommunika­tion und Engagement.  

Wie ein Fokus auf Kommunikation gestaltet werden kann und wie er den Wandel zu mehr sozialer Nachhaltigkeit beeinflusst, lässt sich beim Verbindungstechnik- und Automatisierungsspezialisten WAGO beobachten. Astrid Burschel ist Vice President Corporate Sustainability und hat die Erfahrung gemacht, dass Austausch im Intranet Beschäftigte inspiriert, die Möglichkeiten im eigenen Umfeld auszuloten. „Kommunikation schafft ein Bewusstsein, das soziales Engagement fördert“, sagt sie. „Indem ich immer wieder im Intranet über entsprechende Projekte im Unternehmen berichte, fragen sich Beschäftigte auch verstärkt ‚Wie geht es meinem Umfeld?‘, ‚Was kann ich selbst tun?‘.“  

So wurde Burschel etwa darauf aufmerksam, dass Hygieneprodukte für Frauen am indischen Standort fehlten, und veranlasste, dass diese zur Verfügung gestellt wurden. In China gründeten Mitarbeiter einen Freiwilligenverein für die Unterstützung von Kinderheimen. Vor Ort in Minden wiederum gab es andere Bedürfnisse – etwa Beschäftigte, die Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr sind und nach einem nächtlichen Einsatz am Folgetag gerne spontan Überstunden abbauen und dem Schichtdienst fernbleiben wollten. Das zu ermöglichen, ist für WAGO – wie in vielen Unternehmen – eine Selbstverständlichkeit.  

Messbare Ergebnisse  

Die Erfolge von WAGOs Bemühungen um soziale Nachhaltigkeit können sich auch im Nachhaltigkeitsbericht sehen lassen. Die Kommunikationsbemühungen finden Erwähnung, ebenso das Pflanzen von mehr als 13.000 Bäumen und das Engagement von Beschäftigten, die bereits über 3.000 Stunden gemeinnütziger Arbeit verrichtet haben.  

Auch das Engagement von Sitex hat Spuren hinterlassen – sowohl an den 24 Standorten bei rund 5.000 Mitarbeiter, als auch in dem noch freiwilligen Nachhaltigkeitsbericht, den das Unternehmen veröffentlicht. „Im Projekt ‚Bildungspartner – Soziale Initiative der Mindener Wirtschaft‘ engagieren sich viele Unternehmen, Geschäfte und Privatpersonen aus der Region für Bildungschancen der Kinder“, heißt es dort beispielsweise, um ihre schulische,  musische,  kulturelle  und  sportliche  Ausbildung zu fördern. „Als Mitbegründer der Initiative hat Stephan Richtzenhain mit Sitex seit 2003 mehrere hundert Kinder durch individuelle Förderung unterstützt und auf ihrem Weg zu einem qualifizierten Schulabschluss begleitet.“ Der Berichterstattungspflicht sieht der Geschäftsführer gelassen entgegen. „Im Großen und Ganzen denken wir zumindest, dass wir der Gesetzgebung mit dem, was wir tun, immer eine Nasenlänge voraus waren. Wir müssen jetzt zwar strukturiert berichten, getan haben wir diese Dinge aber immer schon.“

Neue Leistungskennzahlen implementieren

Um den Wandel hin zu einem nachhaltigen Unternehmen voranzutreiben, empfiehlt Unternehmensberaterin Victoria Riess, Führungskräften Transformations-KPIs einzuführen – zum Beispiel:

  • Quantität und Qualität der Schulungen: Anteil der geschulten Mitarbeiter, etwa, wie viel Prozent des Führungsteams für die Arbeit im Zusammenhang mit den neuen Prozessen und - Fähigkeiten geschult wurden, die für eine Kreislaufwirtschaft erforderlich sind-
  • Nutzung von Lernplattformen und ESG-Intranet
  • Leadership-Kennzahlen, etwa, wie viel Prozent der mittleren Führungskräfte haben eine Kennzahl für funktionsübergreifende Zusammenarbeit, inklusive Führung, Mitarbeitermotivation für das ESG-Ziel oder den Unternehmenszweck 


Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Tanja Könemann
Bildnachweis: Dusan Petkovic/ iStock