Insolvenzen in Deutschland, 1. Halbjahr 2022
Die Insolvenzfälle bleiben auch im Sommer 2022 insgesamt gesehen auf einem historisch niedrigen Niveau. Auf den zweiten Blick ist diese Entwicklung aber keinesfalls gefestigt, es zeichnen sich erste Verwerfungen und sogar strukturelle Veränderungen im Insolvenzgeschehen ab.
Corona fordert bei Selbstständigen und großen Unternehmen Tribut
Trotz des Krieges in der Ukraine und den damit verbundenen Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft verbleibt die Zahl der Unternehmensinsolvenzen zunächst auf einem niedrigen Niveau. Im 1. Halbjahr 2022 wurden 7.300 Unternehmensinsolvenzen registriert. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum (1. Halbjahr 2021: 7.510 Unternehmensinsolvenzen) sind die Fallzahlen wieder leicht zurückgegangen. „Trotz über zwei Jahren Corona und der zuletzt massiven Kostenexplosion gibt es keinen Anstieg bei den Insolvenzen“, berichtet Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung. „In Teilen der deutschen Unternehmenslandschaft sehen wir jedoch Auswirkungen der Verwerfungen“, so Hantzsch weiter. Insbesondere bei Großunternehmen gebe es einen Anstieg der Insolvenzmeldungen. Prominente Beispiele im bisherigen Jahresverlauf seien die MV-Werften sowie die Modekette Orsay.
Die Studie der Creditreform Wirtschaftsforschung belegt zudem eine hohe Zahl an Insolvenzen von (ehemals) Selbstständigen, die meist ein vereinfachtes Insolvenzverfahren durchlaufen und nicht als Unternehmensinsolvenzen gezählt werden. „Für viele Kleinstunternehmer und Freiberufler waren die Rahmenbedingungen in der Corona-Zeit denkbar schlecht“, erläutert Hantzsch. Zum Teil seien Geschäftsmodelle weggebrochen. Die staatlichen Finanzhilfen hätten hier nur wenig Entlastung gebracht und seien kein nachhaltiger Ersatz für erwirtschaftete Umsätze gewesen. Entsprechend ist gerade im Segment der kleinen Selbstständigen die Zahl der Insolvenzanträge weiter hoch. In den ersten sechs Monaten sind allein rund 10.700 Fälle gezählt worden. Schon im Vorjahr habe man einen ansteigenden Trend beobachten können. Die zu den „sonstigen Insolvenzen“ zählenden Insolvenzen von ehemals Selbstständigen mit einem vereinfachten Verfahren waren im Vorjahr (2021) nach den Erleichterungen im Insolvenzrecht ähnlich wie die Verbraucherinsolvenzen nach oben geschnellt. Auch hier hat es offensichtlich Nachholeffekte gegeben.
Anstieg im Verarbeitenden Gewerbe, UG legt weiter zu
Einen Anstieg der Unternehmensinsolvenzen verzeichnet die aktuelle Studie von Creditreform für das 1. Halbjahr 2022 in den Wirtschaftsbereichen Verarbeitendes Gewerbe (plus 14,9 Prozent) und Baugewerbe (plus 19,4 Prozent). Weiter erhöht hat sich das Insolvenzaufkommen auch bei der Rechtsform Unternehmergesellschaft (UG haftungsbeschränkt). Deren Anteil betrug im 1. Halbjahr 11,5 Prozent (Vorjahreszeitraum: 10,8 Prozent). Das Gros des Insolvenzgeschehens machen aber weiterhin vor allem Einzelunternehmen und Unternehmen der Rechtsform GmbH aus.
Von der Insolvenz des Arbeitgebers betroffen waren im 1. Halbjahr 2022 insgesamt rund 68.000 Beschäftigte. Die Schäden für die Gläubiger von insolventen Unternehmen belaufen sich auf geschätzt 19,0 Mrd. Euro. Pro Insolvenzfall betragen die ausfallbedrohten Forderungen damit durchschnittlich 2,6 Mio. Euro. Dieser Wert ist etwas niedriger als im Vorjahreszeitraum, aber merklich höher als in früheren Jahren.
Junge Unternehmen stärker betroffen
Ein weiterer Befund der diesjährigen Insolvenzanalyse: Die insolventen Unternehmen waren deutlich jünger als in früheren Jahren. „Diese Entwicklung ist neu, nachdem seit Jahren nicht nur der Unternehmensbestand in Deutschland, sondern auch die Insolvenzkandidaten immer älter geworden waren“, ergänzt Creditreform Sprecher Hantzsch. Fast ein Viertel der betroffenen Unternehmen (24,4 Prozent) sei höchstens vier Jahre am Markt gewesen, dann sei schon die Insolvenzmeldung erfolgt. Gründungen kurz vor oder während der Corona-Krisenjahre hätten mit zahlreichen Widrigkeiten wie Lockdown, Geschäftsschließungen oder gestörten Lieferketten zu kämpfen gehabt.
Verbraucherinsolvenzen: „Nachhol-Welle“ abgeebbt
„Bei den Verbrauchern hat sich die Insolvenzwelle vom Vorjahr abgeschwächt“, kommentiert Hantzsch die aktuelle Entwicklung bei den Privatinsolvenzen. Im 1. Halbjahr 2022 wurden 32.800 Insolvenzfälle von Verbrauchern gemeldet, 42.710 waren es im 1. Halbjahr 2021. Damals hatte eine Änderung des Verbraucherinsolvenzrechts deutliche Erleichterungen für überschuldete Privatpersonen gebracht – insbesondere eine schnellere Restschuldbefreiung. Dementsprechend war die Zahl der Verbraucherinsolvenzen nach oben geschnellt. Mittlerweile ist dieser Nachhol-Effekt abgeebbt. Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen liegt etwa auf dem Niveau des 1. Halbjahres 2019.
Ausblick eher pessimistisch
Im weiteren Jahresverlauf 2022 wird sich der aktuell rückläufige Trend bei den Verbraucherinsolvenzen voraussichtlich fortsetzen. Bei den Unternehmen ist indes eine Trendumkehr zu befürchten: Die konjunkturellen Rahmenbedingungen haben sich durch den Krieg in Osteuropa, den angebotsseitigen Preisauftrieben und der beginnenden Zinswende deutlich verschlechtert und die Wirtschaft wird kaum noch wachsen. Das wird nicht ohne Folgen für die Insolvenzentwicklung bleiben.