Jessica Springfeld [00:00:00] Früher waren die Prognosen der Wirtschaftsinstitute und Banken eine relativ verlässliche Sache. Dann las man: Die Wirtschaftsweisen rechnen mit einer Inflation von X oder einem Wirtschaftswachstum von Z. Auch auf den Hauptversammlungen der Unternehmen wurden oft sehr klare Zahlen und Ziele für die Jahresplanung kommuniziert. Doch wenn wir etwas in den letzten zwei Jahren gelernt haben, dann vielleicht, dass eben nichts so sicher ist, wie es vielleicht scheint. Ereignisse wie Corona, all die damit verbundenen Sonderregelungen und Entwicklungen der Ukraine-Krieg, die Sanktionen. All das führt dazu, dass viele Unternehmen auf Sicht steuern müssen. Dinge, die zu Beginn der Jahresplanung klar erschienen, müssen es nur wenige Wochen später längst nicht mehr sein. Was also tun? Anstatt starrer Zahlen gibt es bestimmte Trends, die man im Auge behalten sollte, sagt mein heutiger Gast. Welche das sind und warum sie deutsche Unternehmen, egal was passiert, durch die nächsten Monate und Jahre begleiten werden, das bespreche ich heute mit ihm. Ich freue mich auf Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform.
Jingle [00:01:18] Gute Geschäfte Business Wissen in zehn Minuten - Der Creditreform Podcast.
Jessica Springfeld [00:01:28] Hallo, Herr Hantzsch.
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:01:29] Hallo, Frau Springfeld.
Jessica Springfeld [00:01:31] Herr Hantzsch, Sie leiten die Wirtschaftsforschung. Und doch werden die Prognosen immer schwieriger. Wie gehen Sie denn persönlich damit um?
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:01:37] Ich kann Ihnen sagen, dass es persönlich gar nicht so einfach wegzustecken. Ich habe seit rund zwei Jahren immer wieder gepredigt: Wir müssen schauen, was ist in der Vergangenheit passiert? Und kurzum: Das funktioniert nicht mehr. Was in der Wirtschaftskrise, in der Weltfinanzkrise 2008 / 2009 noch gegolten hat, normale Rezessiosverläufe, Konjunkturverläufe, all das funktioniert nicht mehr. Woran wir das heute erkennen, ist ganz praktisch gesehen beispielsweise bei einem klassischen Indikator, nämlich den Insolvenzzahlen. Da liegen wir im Moment bei einem Allzeittief von 14.300 Insolvenzen, die wir für das Jahr 2021 gemessen haben. Das Gleiche sehen wir bei der Verbraucherüberschuldung. Auch hier sind wir auf einem Tief angelangt, seit der Erhebung 2004. Also, alles Kriterien, die eigentlich für eine ganz andere Wirtschaftslage sprechen für die, die wir nach Corona haben. Und natürlich auch die, die uns noch bevorsteht, wenn wir an den Ukraine-Krieg denken, wenn wir auf die Tankstellen gucken. Da tut sich gerade einiges, und das ist nicht alles gut.
Jessica Springfeld [00:02:40] Heißt also schlicht, diese alten Seismographen, die haben so ein bisschen ausgedient? Gibt es so einen Punkt, seitdem Sie sagen: Also seitdem lohnt es sich auf jeden Fall eher, auf Trends zu gucken?
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:02:53] Ja, tatsächlich ist das ein ganz, ganz neues Phänomen. Ich bin die letzten zwei Jahre durch die Lande gegangen und habe gesagt: Normalerweise müsste jetzt die Insolvenzwelle kommen. Normalerweise heißt aber in diesem Fall: Sie kommt einfach nicht. Und da haben wir gesagt: Wir müssen jetzt schauen, wie können wir uns der gesamtwirtschaftlichen Lage trotz allem annähern? Und da haben wir gesagt, wir schauen auf Indikatoren, auf frische Indikatoren. Genannt sei hier zum Beispiel das Lkw-Aufkommen auf den Straßen, um einfach zu sehen, wie viel Bewegung ist denn in der Wirtschaft eigentlich im wortwörtlichen Sinne. Oder andere Kaufkraft Indikatoren. Also das sind alles Dinge, die haben wir zu Anreicherung neu und wir können uns nicht mehr auf die traditionellen Indikatoren vorbehaltlos verlassen. Die Zahlen sagen uns nicht mehr ganz genau, was eigentlich ist.
Jessica Springfeld [00:03:38] Deswegen sagen Sie: Megatrends im Auge zu behalten, ist eigentlich die klügere Lösung. Ganz kurz: Welche sind dieser Tage Ihrer Meinung nach besonders relevant?
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:03:49] Ja, da braucht man nicht viel Fantasie. Megatrends meint, das sind Trends, die jetzt da sind, die wir schon seit langem beobachten, die wir jetzt sehen, aber die vor allem auch bleiben werden. Das sind keine Dinge, keine Entwicklungen, keine Mechanismen, die sich in kurzer Zeit wieder erledigt haben. Als Beispiel sei hier die Inflation genannt. Die Inflation ist auch von führenden Instituten, auch von der EZB, zunächst einmal als vorübergehendes Phänomen, als Phänomen von Sondereffekten, Basiseffekten betrachtet worden. Jetzt gerade in dieser Woche fängt natürlich ein Umdenken an. Die EZB fängt mit ihrer Kommunikation an, um die Märkte auf eine Zinserhöhung, auf eine Zinswende vorzubereiten. Das ist nur ein ganz kleines Beispiel dafür, dass alte Gewissheiten wie die Teuerungsraten, wie Energiepreise - siehe Ukrainekonflikt - aber auch Dinge wie Digitalisierung, Fachkräftemangel. Das sind alles Themen, die kennen wir zwar schon in irgendeiner Form, aber die werden ganz maßgeblich das Wirtschaftsgeschehen 2022 und 2023 bewegen.
Jessica Springfeld [00:04:50] Dann lassen Sie uns ganz kurz auf das Thema Inflation einmal noch eingehen. Einen großen Treiber haben Sie gerade genannt: Energiepreise, Ukrainekrise. Am Rand haben Sie auch die Lieferketten erwähnt. Jetzt könnte man ja sagen: Okay, Corona ebbt so langsam ab. Eigentlich müssten die doch jetzt alle wieder in Schwung gekommen sein. Warum sind sie es nicht? Und was hat das vielleicht für Auswirkungen auch weiterhin auf den Mittelstand?
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:05:14] Manchmal denke ich, wir gucken auf ein Drama, denn zu Beginn des Jahres hatten wir tatsächlich gerade im verarbeitenden Gewerbe wirklich gute Zahlen und Werte. Wir haben eine ganz aktuelle Studie zum Handwerk, die exemplarisch zeigt, zum Befragungszeitraum Februar 2022 - das ist erst wenige Wochen her - und da hat man Zuversicht geschnuppert. Man hat gesagt: Okay, die schwierige Corona-Zeit ist vorbei. Wir haben noch Herausforderungen, unter anderem Teuerungsraten, unter anderem Lieferketten. Aber diese Lieferketten begannen wieder zu funktionieren. Und jetzt haben wir das Problem in der Industrie beispielsweise: Die Auftragsbücher sind voll, aber es fehlen Material, es fehlen Vorprodukte, es fehlen Teile. Halbleiter seien hier als Beispiel genannt, um endlich wirklich die Aufträge auch zu Ende zu führen, um Rechnungen zu schreiben. Also kurzum die Lieferketten haben begonnen, sich zu normalisieren, wenn auch nicht wieder reibungslos zu laufen. Und dann kommt der Ukrainekonflikt und der zerreißt uns die Ketten wiederum. Es geht gar nicht darum, bei diesen Megatrends zu sagen: Wir wissen, wohin alles läuft, sondern wir müssen sagen: Kümmert euch darum. Bereitet euch auf das Schlimmste vor. Seid froh, wenn es nicht eintrifft. Und diese teilweise erratischen Vorhersagen, die bringen eine Sensibilisierung in den Markt, die wir vorher so nicht hatten.
Jessica Springfeld [00:06:32] Jetzt ist es ja so. klar mit Russland standen wir irgendwie in engem Kontakt, vor allem wegen Energielieferungen. Tun wir auch jetzt noch. Mit der Ukraine kann ich jetzt nicht beurteilen. Auch da sitzen vielleicht ein paar Zulieferer. Ein viel größerer Zulieferer und viel relevanter für uns, speziell auf dem Bereich Halbleiter ist ja China. Hat sich da denn die Lage schon wieder komplett normalisiert? Oder sagen Sie, auch, das hängt da noch mit drin?
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:06:58] China steht für eine Entwicklung, die wir sehen. Corona ist nicht vorbei und Corona ist auch in China nicht vorbei. Die Zero-Covid-Strategie, die die chinesische Regierung immer noch verfolgt, sorgt dafür, dass bei kleinen Ausfällen Häfen geschlossen werden. Dass kleinere Ereignisse dazu führen, dass die Lieferketten, die sehr sensibel sind, global gesehen auch aus China als wirklich wichtigen Lieferanten, dass die teilweise nicht richtig funktionieren. Und da haben wir gerade begonnen, sozusagen etwas Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Das hat sich weitgehend normalisiert. Aber jetzt, mit diesen wirtschafts- und geopolitischen exogenen Faktoren, die wir ganz jüngst dabei haben, da wird es noch mal schwieriger. Also China ist auch kein absolut zuverlässiger Lieferant. Nicht weil sie es nicht wollen, aber weil sie es teilweise nicht können.
Jessica Springfeld [00:07:44] Dann hatten sie angesprochen das Thema zwei: Fachkräftemangel. Jetzt ist das nichts Neues. Auch das hören wir wirklich schon seit Jahren. Es scheint mir aber, dass sie sagen: Okay, noch genauer hingucken, weil es wird jetzt noch relevanter. Was sind denn da Ihre Prognosen?
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:08:01] Da brauchen wir im Moment gar keine Prognosen zu befragen. Wir haben jüngst unsere Studie Wirtschaftslage und Finanzierung im Handwerk herausgegeben von der Creditreform Wirtschaftsforschung. Da haben wir uns entschlossen, ein Schwerpunktthema aus diesem Fachkräftemangel zu machen. Aber man muss es genauer sagen. Es ist nicht der Fachkräftemangel, es ist ein Fachkräfte- und Personalmangel. Das ist ein großer Unterschied. Während wir früher IT-Spezialisten gesucht haben, suchen wir jetzt Kellner. Wir suchen Handwerker, wir suchen Lkw-Fahrer. Eigentlich grundsätzlich gibt es ein Nachwuchsproblem in Ausbildungsberufen. Das wird langfristig auf jeden Fall drücken. Und natürlich jetzt durch die aktuellen Entwicklungen. Es fehlt der der Nachwuchs der Fachkräfte, der Personalnachschub aus Osteuropa, der früher immer für eine gewisse Stabilisierung gesorgt hat. Es fehlt an ausgebildeten Menschen und hat dazu geführt, dass viele aus diesen Berufen, die sehr gelitten haben, unter Corona, in andere Bereiche gegangen sind. Und die kommen nicht so schnell wieder. Und wir müssen uns immer die Frage stellen, wenn wir große Themen wie die Energiewende beispielsweise, überhaupt bewältigen können, da können wir natürlich tolle Konzepte haben, aber wir brauchen die Menschen, die das Ganze umsetzen können. Und wenn uns die fehlen, nützt das beste Konzept und die beste Finanzierung nichts.
Jessica Springfeld [00:09:17] Ein Trend, der so ein bisschen in den Hintergrund gerückt ist, der uns aber speziell als die neue Regierung angetreten ist, total begleitet hat, ist das ganze Thema Nachhaltigkeit, Green Deal, ESG. Welche Gesetze sollte man hier vielleicht als Unternehmen besonders im Blick halten?
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:09:34] Ja klar, ESG ist das Stichwort der Stunde an den Finanzmärkten, in der Wirtschaft. Alle reden davon. Ein ganz spezielles Phänomen bzw. ein Teil dieses Nachhaltigkeitsgedankens ist das sogenannte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Das klingt nicht nur nach Bürokratiemonster, das ist es teilweise auch. Das wird zum 1.1.2023 in Kraft treten, dann 2024 für kleinere Unternehmen. Also ein Riesenthema, was da auf die mittelständischen Unternehmen, auch auf die kleineren zukommt. Dokumentationspflichten. Es geht in der Regel darum, da gute Lieferbedingungen nach verschiedenen Kriterien zu gewährleisten. Das wird die Unternehmen aber sehr, sehr stark beschäftigen. Also da kann man ewig drüber reden in diesem Rahmen. Wahrscheinlich schaffen wir es nicht. Aber was wir schaffen, ist zu sagen: Lieber Mittelstand in deiner ganzen Breite, nimm das Thema ernst. Beschäftige dich damit, denn es kommt auf dich zu. Wenn nicht sofort, aber als Lieferant, als Kunde bist du davon betroffen und es wird die Unternehmen einholen. Jetzt ist der Zeitpunkt und auch da kann Creditreform vielleicht einen kleinen Beitrag zu leisten. Wir entwickeln gerade ganz aktuell den sogenannten ESG-Score, mit dem es Unternehmen möglich wird, sich zu zertifizieren gegenüber Finanzdienstleistern, Geschäftspartnern, Kunden, Lieferanten etc. Das ist ein ganz wichtiges Tool. Wir sind dabei, da wirklich auch der Wirtschaft was zu geben. Das Thema ist super wichtig.
Jessica Springfeld [00:10:56] Wir haben also gesprochen über Inflation, Fachkräftemangel, ESG, drei Megatrends, die Sie auf jeden Fall im Blick haben sollten, als Mittelständler. Vielleicht auch als Privatperson, es betrifft uns ja letztlich alle. Wir freuen uns, dass Sie sich wieder zehn Minuten Zeit genommen haben, um uns zuzuhören. Und ich freue mich, dass Sie hier bei mir im Studio waren.
Patrik-Ludwig Hantzsch [00:11:18] Ich freue mich auch. Vielen Dank. Hat sehr viel Spaß gemacht. Und einen schönen Tag noch.
Jingle [00:11:26] Gute Geschäfte. Business-Wissen in zehn Minuten. Der Creditreform Podcast.