Überschuldung in Deutschland - ist die Krise noch nicht angekommen?
Auf den ersten Blick ein überraschendes Ergebnis: Die Zahl überschuldeter Verbraucher ist zum vierten Mal in Folge zurückgegangen.
Angesichts der vielen Krisen von der Pandemie über die Energie-Notlage bis zur Inflation bedarf diese Entwicklung der Einordnung. Zum Stichtag 01. Oktober 2022 waren in Deutschland 5,88 Millionen überschuldete Personen zu zählen. Im letzten Jahr vor der Krise (2019) waren es noch 6,92 Millionen Betroffene gewesen. Entsprechend verringerte sich die Überschuldungsquote, welche die Zahl der Überschuldeten ins Verhältnis zur Erwachsenen-Einwohnerzahl stellt. Sie nahm von 10,0 auf aktuell 8,48 Prozent ab.
Creditreform unterscheidet hier zwischen „harter“ und „weicher“ Überschuldung. Bei der harten Überschuldung handelt es sich um Personen, die bereits juristisch relevante Merkmale aufweisen, bei der weichen Überschuldung geht es um offene Rechnungen, Mahnungen und Inkassofälle. Bei den harten Negativmerkmalen war ein Rückgang um 6,1 Prozent (219.000 Personen) zu registrieren, bei den weichen beträgt das Minus 2,1 Prozent (54.000 Betroffene). Gerade bei der harten Überschuldung verwundert der Rückgang auf den ersten Blick. War doch die Zahl der Verbraucherinsolvenzen markant in die Höhe geschossen. Konsumenten, die sich über ein gerichtliches Verfahren entschulden lassen wollten, bringen es in der Summe 2022 wohl auf mehr als 80.000 Fälle. Doch ist dieser Zugang nicht etwa der aktuellen Krisensituation geschuldet, sondern einer Änderung im juristischen Verfahren. Die Wohlverhaltensperiode, der Zeitraum, in dem der Schuldner sich bemühen muss, im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten einen gewissen Betrag seiner Schuldensumme noch zu begleichen, um dann schließlich in den Genuss der Restschuldbefreiung zu kommen, ist deutlich verkürzt worden. Betrug er vor der Reform noch sechs Jahre, so hat er sich nun auf drei halbiert. Viele Überschuldete haben mit ihrem Antrag gewartet, um in den Genuss der Verkürzung bis zum Erlass aller Schulden zu kommen. Und schließlich gilt auch, dass die Insolvenzverfahren nur einen sehr kleinen Teil der gesamten Überschuldungssituation darstellen, die Rede ist von ein bis zwei Prozent.
Angstsparen
Ein weiterer Grund für die positive Entwicklung vor allem bei der weichen Überschuldung sind die Restriktionen im Hinblick auf den Konsum, die sich durch den Lockdown ergeben hatten. Die geschlossenen Läden, aber auch die Angst vor einer weiteren Verschärfung der Situation hatten dazu geführt, dass die Bürger Ersparnisse von mehr als 200 Mrd. Euro zurückgelegt hatten. Mit dem weitgehenden Aufheben der Beschränkungen wurde dann Konsum nachgeholt. Schließlich aber haben auch viele überschuldete Personen ihre angesparten Guthaben genutzt, um Schulden zu tilgen und sich so einen „Fresh Start“ zu ermöglichen. Dieser Effekt sorgte vor allem im Bereich weicher Überschuldung für die positive Entwicklung.
Ob Konsum oder Schuldentilgung – die Sparguthaben dürften mittlerweile weitgehend aufgebraucht sein. An Wert verloren haben die restlichen Gelder auf jeden Fall durch die Inflation. Nach Berechnungen des ifo Instituts aus München sank ab der Jahresmitte das Volumen der gesamten Bankeinlagen unter den Wert, der im Vergleich zur Situation in den letzten fünf Jahren zu erwarten gewesen wäre. Wie prekär die Finanzsituation der Verbraucher geworden ist, zeigt sich vor allem, wenn man die Ersparnisse in Euro und nicht in Spar-Quoten genauer in den Blick nimmt. Die ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland wird deutlich. Laut Berechnungen der Bundesbank haben die Haushalte der unteren Hälfte der Vermögensverteilung nur 420 Euro zurückgelegt, während das oberste Prozent der Vermögensverteilung durchschnittlich 120.000 Euro Ersparnisse zur Verfügung hat. Durch die Auflösung der zurückgelegten Gelder haben die Verbraucher die Konjunktur in Deutschland nach der Pandemie wieder in Fahrt gebracht. Es war (zunächst) nicht zu einem längerfristigen wirtschaftlichen Nullwachstum gekommen, sondern zu einem raschen Wiederaufschwung. Vor allem aber ist es nicht zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gekommen – dafür sorgten Kurzarbeitergelder und Milliarden Euro an Unterstützung für Unternehmen.
Schwieriger Arbeitsplatz
Das Statistische Bundesamt erhebt über eine repräsentative Befragung der Schuldnerberatungsstellen die Hauptauslöser für die Überschuldungssituation der Ratsuchenden. Dabei zeigt sich, dass sich vor allem die Arbeitslosigkeit, die zwar immer noch an erster Stelle bei den Gründen für die Überschuldung steht, jetzt deutlich verringert hat. Zwischen 2008 und 2022 ist ihre Relevanz im Katalog der Gründe für die Überschuldung um 41 Prozent rückläufig. Und selbst noch in der aktuellen Krise 2022 ist ein Minus von 6 Prozent gegenüber 2021 zu registrieren. Die Zahl der Nennungen bei den Überschuldungsauslösern hat am stärksten beim längerfristigen Niedrigeinkommen zugelegt. Mittlerweile wird es doppelt so häufig genannt wie vor 14 Jahren. Gegen den Trend der Zeit seit 2008 haben sich auch die Zunahmen beim Merkmal „Erkrankung, Sucht, Unfall“ aktuell verringert. Waren es über die letzten Jahre Zunahmen in Höhe von 46 Prozent, so sind es aktuell im Vergleich zum Vorjahr nur noch 3 Prozent in dieser Kategorie. Auch die „unwirtschaftliche Haushaltsführung“, die zwischen 2008 und 2022 um 33 Prozent zulegte, ist in der aktuellen Krise nicht mehr so stark bei den wichtigsten Gründen vertreten. Sie wurde um 2 Prozent weniger genannt. Im Hinblick auf die Erfolge, welche die Politik mit der Stabilität des Arbeitsmarktes ins Feld führt, geben die genannten Überschuldungsgründe doch zu denken. Vielfach wird von Vertretern der Arbeitnehmerseite der Druck im modernen Arbeitsleben für Erkrankungen verantwortlich gemacht. Und auch ein längerfristiges Niedrigeinkommen verbirgt möglicherweise nur eine finanzielle Situation, die nahe an der Arbeitslosigkeit angesiedelt ist. Hier ist die Rede von den „Working Poor“, die mit ihrem Verdienst nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Die aktuellen Zahlen zur Entwicklung der Überschuldung sind positiv. Zu warnen ist allerdings davor, dass sich diese Entwicklung fortsetzt – zu groß sind die vielfältigen Krisen, die sich nur bis jetzt, im aktuellen Jahr, noch nicht mit ihrem ganzen Gewicht für die Verbraucher bemerkbar gemacht haben.
Quellen: Creditreform SchuldnerAtlas, Destatis, ifo Institut