KI-Stimmanalyse: Hilfe bei der Bewerberauswahl?
Froh, traurig, wütend, entschlossen, unsicher – die Stimme verrät viel über unsere Stimmung. Kann sie auch Aufschluss über unsere Persönlichkeit, die beruflichen Chancen oder gar den Gesundheitszustand geben? Diverse KI-Unternehmen arbeiten jedenfalls daran.
“Lernen Sie die wichtigste Person in Ihrem Leben besser kennen – sich selbst.“
So wirbt das Unternehmen Kosys für seine App Wooyce. In nur 30 Minuten könne man damit einen objektiven Persönlichkeitstest durchführen, verspricht Firmenchef Josua Kohberg: Einfach ein paar Sätze ins Smartphone sprechen, den Rest erledigt die KI. Anhand der Stimmfrequenz erstellt der Algorithmus ein individuelles Stärken-Schwächen-Profil und schlägt sogar passende Berufe vor. Das Ergebnis ließe sich beispielsweise für gezieltes Coaching oder bessere Karriereentscheidungen nutzen, so Kohberg. Unternehmen bietet er die App für Teambuilding-Workshops oder zur Unterstützung von Auswahlgesprächen an. Klingt super, aber stimmt das auch?
„Die Stimme ist so individuell wie der Fingerabdruck“, sagt Kohberg. Anders als das menschliche Ohr sei eine trainierte KI in der Lage, feinste Nuancen zu unterscheiden und auszuwerten. Zudem beruhe das Ergebnis auf objektiven Messergebnissen statt auf subjektiver Selbsteinschätzung – ein typischer Schwachpunkt klassischer Persönlichkeitsfragebögen. Der Haken an der Sache: Tatsächlich ist jede Stimme einzigartig. Doch für den Zusammenhang zwischen persönlicher Stimmfrequenz und Charakter gibt es keinerlei wissenschaftlichen Beleg. Das unterscheidet die App von der analogen Konkurrenz: Während Persönlichkeitstests wie etwa das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP) oder der Gallup-Test auf anerkannten psychologischen Modellen und wissenschaftlich evaluierten Fragebögen beruhen, setzt Wooyce auf Esoterik.
Persönlichkeitsanalyse per Tonleiter
Kohberg, selbst kein Wissenschaftler, beruft sich auf Erkenntnisse aus dem indischen Klangyoga, wonach jeder Mensch einen persönlichen „Basiston“ habe. Jeder Ton oder Halbton auf der Tonleiter stehe für bestimmte Persönlichkeitsmerkmale: Ein G signalisiert in der Wooyce-Skala beispielsweise ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, das E deutet auf eine soziale und teamfähige Persönlichkeit hin, A und Ais sind intellektuell-analytische Typen. Aus Basis- und Nebentönen der eigenen Stimme ergebe sich für jeden Menschen ein individuelles Stärken-Schwächen-Profil mit mehr oder weniger ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen, die sich mal ergänzen, mal blockieren können.
Ob das funktioniert, ist eine Glaubensfrage. Zumindest das Geschäftsmodell hinter Wooyce scheint jedoch zu funktionieren. Rund 7.000 Stimmanalysen hat Kosys seit dem Launch der KI-App vor knapp drei Jahren durchgeführt, die meisten davon für private Nutzer. Die zahlen für die 40-seitige Auswertung rund 200 Euro und buchen danach oft weitere Leistungen wie ein persönliches Analysegespräch oder digitales Coaching. Auch im Unternehmensumfeld kann Kohberg erste Referenzen vorweisen. Für rund 5.000 Euro können Arbeitgeber ihre HR-Kräfte für den Einsatz der KI-Stimmanalyse schulen, ein moderierter Teambuilding-Workshop ist ab rund 6.000 Euro zu haben.
Zugegeben: Josua Kohberg ist keineswegs der einzige Anbieter auf dem Markt für Coaching, persönliche Entwicklung und Kommunikationsberatung, der wissenschaftliche Evidenz als Nebensache betrachtet. Auch Konzepte wie Feng Shui, Human Design oder Neurolinguistische Programmierung NLP gelten als nicht belegte „Parawissenschaft“. Trotzdem vertrauen Millionen Menschen darauf. Abgesehen vom Preis und von der schwachen Beweislage sollten Arbeitgeber aber auch die rechtlichen Risiken beim Einsatz einer KI-App für die Personalauswahl im Blick haben.
Juristische Grauzone bei Persönlichkeitstests
Grundsätzlich dürfen Unternehmen bei Neueinstellungen oder Beförderungen zwar Persönlichkeitstests durchführen. Die müssen jedoch seriös und angemessen sein und dürfen nicht unverhältnismäßig in die Privatsphäre eingreifen. Ob die Stimmanalyse diese Kriterien erfüllt, ist fraglich, erst recht, wenn auch noch KI ins Spiel kommt. Wer diese Apps in der Personalabteilung nutze, bewege sich oft in einer juristischen Grauzone, denn bislang gebe es dazu kaum gesicherte Rechtsprechung, warnt Thomas Wolf, Partner und Leiter Arbeitsrecht bei KPMG Law in Berlin. Um Haftungsrisiken und Imageschäden zu vermeiden, müsse die Einführung von KI-Tools arbeits- und datenschutzrechtlich so gut wie möglich abgesichert werden: „Eine gründliche Prüfung des regulatorischen Umfelds ist zwingend,“ sagt der Rechtsexperte. Dazu gehört zum Beispiel die DSGVO, der EU AI Act sowie gesetzliche und interne Antidiskriminierungsrichtlinien.
Also doch lieber zurück zum klassischen Persönlichkeitsfragebogen? Für Christoph Hohenberger und Patrick Oehler nicht die beste Option: Antworten würden bewusst geschönt, oft genügten bereits ein paar absichtlich falsch gesetzte Kreuze, um auf dem Papier als völlig anderer Mensch zu erscheinen, so die Gründer des Münchner Startups Retorio. Sie setzen auf Data Science plus Verhaltensforschung. Anhand von kurzen Videoaufnahmen analysiert ihre KI-Lösung Faktoren wie Sprachstil, Tonfall, Wortwahl, Gesichtsausdruck oder Körpersprache, um daraus Rückschlüsse auf das Kommunikationsverhalten und relevante Persönlichkeitsmerkmale abzuleiten. Diverse Unternehmen setzen die KI-Videoanalyse bereits erfolgreich im Recruiting-Prozess ein, darunter zum Beispiel die Vergleichsplattform für Mietwagen Happycar. Die Lösung sei datenschutzkonform, wissenschaftlich basiert, fair und absolut freiwillig, heißt es auf der Website. Wer kein Kurzvideo aufnehmen möchte, könne sich ohne Nachteile auf andere Weise bewerben.
KI-Sprachanalysen: Basis für bessere Kommunikation
Neben der Bewerberauswahl lassen sich KI-Sprachanalysen auch für Kommunikations- und Verhaltenstrainings verwenden. Unternehmen wie Retorio oder Vier bieten bereits KI-gestützte Trainingsgespräche für unterschiedliche Zielgruppen an. Philipp Grochowski, Experte für Emotion Analytics bei Vier in Hannover, betont, dass es nicht darum gehe, mittels KI verborgende Persönlichkeitsmerkmale aufzuspüren, sondern Wirkungsprofile auf Basis von Sprache zu erstellen.
„Jeder Mensch denkt anders und drückt sich individuell aus“, sagt der Psychologe: „Unsere KI kann Zusammenhänge zwischen Kommunikation, Verhalten und Performance objektiv messbar und somit bewusst und trainierbar machen.“ Führungskräfte könnten die Sprachanalyse beispielsweise nutzen, um das eigene Führungsverhalten zu reflektieren und zu optimieren. Im Vertrieb könne die KI helfen, kommunikativ mehr Abschlussdruck zu erzeugen oder die Kundenbindung zu stärken.
Geht es nach Dagmar Schuller, wird die KI künftig auch rechtzeitig erkennen, ob wir krank sind. Die Professorin für Wirtschaftsinformatik ist Co-Gründerin und Geschäftsführerin des Unternehmens Audeering, das sich seit 2012 mit KI-Sprach- und Audioanalysen befasst. Ein wichtiger Anwendungsbereich sei die Früherkennung von Krankheiten anhand von Sprachproben: „Die Sprachproduktion ist ein hochkomplexes biologisches System. Neben dem Gehirn sind sehr viele Muskelgruppen beteiligt“, sagt Schuller. Eine trainierte KI könne bereits kleine Dysfunktionalitäten oder Anomalien im Audiosignal sehr zuverlässig erkennen. Ärzte könnten daraus Rückschlüsse auf mögliche Krankheiten ziehen und frühzeitig weitere Untersuchungen einleiten. Natürlich sei die Stimme nur einer von mehreren Biomarkern, so Schuller, dafür jedoch einer, der besonders schnell und kostengünstig abzugreifen sei: „Sie brauchen dafür weder ein Labor noch einen Termin beim Spezialisten, sondern einfach nur Ihr Handy!“
Quelle: Magazin "Creditreform"
Text: Kirstin van Elm
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