Die Büroboter kommen

Take the robot out of the human – gemeint ist, Mitarbeiter mithilfe von KI von routinehaften Tätigkeiten zu befreien. Das gilt nicht mehr nur für Industriebetriebe und deren Fertigung, sondern auch fürs Büro.

Wenn Alfons Riek über Künstliche Intelligenz spricht, nimmt er gern ein Orchester als Beispiel. Der Mensch als Komponist und Dirigent, die Maschine als Musiker. Der Diplom-Ingenieur ist Head of Innovation and Technology bei der Festo Holding in Esslingen nahe Stuttgart. Er ist überzeugt: Wer weniger Zeit braucht fürs Musizieren, hat mehr Zeit zum Komponieren – und gibt beim Dirigieren den Takt vor. Ein Beispiel, das gut passt ins Land der Dichter und Denker. Ein Beispiel, mit dem Riek das Potenzial von Künstlicher Intelligenz (KI) in den Vordergrund stellt. 
Die Chancen sind beträchtlich. KI gilt als Wachstumstreiber: McKinsey prognostiziert, dass die Technologie das globale Bruttoinlandsprodukt bis 2030 zusätzlich um durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte pro Jahr steigern kann. Damit übertreffe KI die jährlichen Wachstumseffekte, die Dampfmaschinen, Industrieroboter und die Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien jeweils erzielten. Insgesamt sei mit Künstlicher Intelligenz bis zum Jahr 2030 ein zusätzlicher globaler Wertschöpfungsbeitrag in Höhe von 13 Billionen US-Dollar möglich, so die Unternehmensberater.

KI in der Industrie

In der Industrie ist KI angekommen. „Ob Roboter, die Aufgaben eigenständig erfüllen und ihr Wissen an andere Maschinen weitergeben, oder KI-Systeme, die Techniker bei Reparaturen anleiten: 12 Prozent der deutschen Industrieunternehmen nutzen heute bereits Künstliche Intelligenz im Kontext von Industrie 4.0“, heißt es beim Bitkom. Dank maschinellem Lernen ließen sich Daten unterschiedlicher Quellen miteinander verknüpfen, Fehler vorhersehen und Probleme beheben. Festo als Vorreiter in Automatisierungsfragen ist schon einen Schritt weiter. Das Unternehmen lotet aktuell Einsatzmöglichkeiten jenseits von Logistik und Produktion aus: KI in betrieblichen Abläufen.
 
Was die Automation in der Industrie geschafft hat, steht nun für den Dienstleistungssektor an. Viele manuelle Handgriffe, wie sie Buchhalter, Controller, Sachbearbeiter, Kundenbetreuer, Vertriebler, Marketeers, aber auch Geschäftsführer täglich hundertfach am PC, Tablet oder Smartphone ausführen, werden künftig teilweise oder ganz von künstlich-intelligenter Software übernommen. Die Idee: „Take the robot out of the human.“ Gemeint ist, Menschen von roboterhaften Routinetätigkeiten zu befreien.

Historische Chance für den Mittelstand 

Dem deutschen Mittelstand kommt dabei eine ganz entscheidende Rolle zu. McKinsey etwa unterstellt  Deutschland mit 1,3 Prozentpunkten ein minimal höheres Wachstumspotenzial als der Weltwirtschaft. Zur Bedeutung für KMU hat die Fördermaßnahme Mittelstand-Digital des Bundeswirtschaftsministeriums 40 KI-Experten befragt – darunter Wissenschaftler der RWTH Aachen und von mehreren Fraunhofer-Instituten. 77 Prozent von ihnen schätzen das Thema als bedeutend für die Zukunft des deutschen Mittelstands ein. 

Festo-Experte Alfons Riek geht noch weiter und spricht gar von einer historischen Chance: „Jetzt ist eine geniale Zeit für Mittelständler. Früher wurden neue Technologien für große Industriebetriebe entwickelt, das konnte sich ein kleines Unternehmen gar nicht leisten.“ Heute sei ein Zugang auch für Mittelständler möglich.

Die Herausforderung, KI ins Unternehmen zu holen, ist keine finanzielle mehr. „Heute heißt die Einstiegsbarriere nicht mehr Geld, sie heißt Berührungsangst“, ist Riek überzeugt. Mittelständler, die sich trauen, empfiehlt er, es Festo gleichzutun: „Kooperationen mit Startups helfen uns dabei, neue Technologien zu entdecken. Für Einsteiger ist das die Chance, auch wirklich anzufangen.“

Startups machen mit KI vertraut

Und die Zahl der Startups, die KI-basierte Lösungen entwickeln, wächst: In diesem Jahr wenden mittlerweile 62 Prozent mehr junge deutsche Unternehmen KI in ihren Produkten und Services an als 2018. Das hat Applied AI ermittelt, eine Initiative von UnternehmerTUM, dem Zentrum für Innovation und Gründung an der TU München. Sie hat die wichtigsten KI-Startups auf einer Landkarte zusammengefasst und auch in verschiedene Bereiche eingeteilt: Industrie, Finanzen und Buchhaltung, HR, Vertrieb und Marketing sowie Kundenservice etwa. 

Im Bereich Finanzen und Buchhaltung zeigt die Landkarte aktuell drei Unternehmen. Zeitgold ist eines davon. Das israelisch-deutsche Startup, in das Anfang des Jahres die Deutsche Bank und der Versicherungskonzern Axa investiert haben, will die Buchhaltung kleinerer Unternehmen digitalisieren. Das Angebot ermöglicht beispielsweise Café- und Restaurantbesitzern, Kassenbücher digital zu führen und Personalabrechnungen per App zu erstellen und zu bezahlen – ebenso Eingangsrechnungen. Auch eine GoBD-konforme Archivierung ist Teil des Services. 

Wettbewerber Fileee hat sich darauf spezialisiert, Prozesse mit Endkunden zu verbessern, die viele Dokumente erfordern. Das Startup hat für Signal Iduna eine App entwickelt, die es Kunden ermöglicht, eine Baufinanzierung komplett übers Smartphone abzuwickeln. Dabei werden sie nicht nur in einem Chat durch den Antragsprozess geführt und können alle nötigen Formulare wie Personalausweis und Gehaltsnachweise per Handyscan beibringen – sie können später sogar Handwerkerrechnungen mittels der Anwendung scannen und bezahlen. 

Kommunikation verbessern 

Smarte Assistenten eignen sich auch für Anfragen die auf Unternehmenswebsites und über Social Media eingehen. Der Medizintechnikhersteller Dräger nutzt einen KI-basierten Chatbot des Startups Knowhere, um häufig gestellte Fragen zu Produkten, Angeboten und Ansprechpartnern automatisiert zu beantworten, die über die globale Facebook-Seite im Messenger eingehen. Die hohe Automatisierung und die hohe Verfügbarkeit sind klar zu erkennen. Seitdem Dräger den Bot nutzt, wird auf der Facebook-Seite „antwortet sofort“ angezeigt.

„Der KI-Chatbot lernt mit jedem Nutzerdialog dazu, um die Intentionen von Fragen besser zu erkennen“, sagt Frederik Schröder, Managing Director bei Knowhere. „Er kann somit immer präziser antworten und immer mehr Anfragen automatisieren.“ Auch der Vertrieb profitiert: Mittels einer Schnittstelle werden vorqualifizierte Leads direkt ins CRM- System eingespeist. Die Implementierungskosten eines Chatbots seien in der Regel fünfstellig, sagt Schröder: „Interessenten können sie mit einem Rechner auf unserer Website ermitteln und dort erkennen, was die Kosten eines Chatbots in die Höhe treibt und was nicht.“

Komplexität reduzieren

Dass mithilfe von KI auch benötigte Informationen aus einer Fülle von Daten besser gefunden werden können, beweist Passage AI. Möchte etwa der Besitzer eines Autos wissen, warum die Motorprüfleuchte leuchtet, stellt er die entsprechende Frage und findet mithilfe eines Chats die richtige Antwort in einer Bedienungsanleitung. „User können selbst aus riesigen FAQ-Datenbanken eine spezifische Antwort auf ihre Frage erhalten, ohne das Gesamtset aller Artikel zum Thema durcharbeiten zu müssen“, verspricht der Anbieter.

Conversational AI – also die Steuerung von Systemen mithilfe einer Konversation – eignet sich auch für interne Aufgaben. „Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in der Beschaffung eines Autoherstellers“, sagt Martina Yazgan, Marketingchefin beim Düsseldorfer Startup Cognigy. „In der Produktion wird eine bestimmte Öse benötigt, aber der bisherige Lieferant ist insolvent.“ Einkäufer müssten schnell Ersatz finden – aber wie? „Allein eine entsprechende Anfrage bei der B2B-Handelsplattform Alibaba liefert etwa 30.000 Ergebnisse.“ Die Softwarelösung Cognigy.AI dient in diesem Fall als Orchestrator zwischen Abfragen und auszugebenen Informationen, um passende Ösen-Anbieter herauszufiltern.  

„Wir müssen KI dort einsetzen, wo sie besser ist als der Mensch“, sagt Festo-Experte Alfons Riek. Dass sich KI auch dazu eignen kann, bei komplexen Entscheidungen zu unterstützen, zeigt Luminovo. Das 2017 gegründete Unternehmen aus München steht auf der KI-Startup-Landkarte von Applied AI im Bereich Consulting und hilft anhand von Deep-Learning-Modellen (siehe Glossar) dabei, Investitionsentscheidungen zu treffen. Ein für das Biotechnologieunternehmen Evotec entwickeltes Modell beispielsweise biete die Chance, bereits während der Entwicklung eines Medikaments Kosten von bis zu 500 Millionen Euro einzusparen, heißt es auf der Website von Luminovo.

Duett oder Duell?

Doch bei allem, was KI-Anwendungen leisten können – wie schaffen es Unternehmen, Berührungsängste der Belegschaft abzubauen? Schließlich dreht sich die aktuelle Debatte stark um die Frage, ob intelligente Maschinen künftig Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit drängen. Alfons Riek kennt Vorbehalte wie diese. Er setzt auf Überzeugungsarbeit: Festo bietet seinen Mitarbeitern ein umfangreiches Seminarangebot und interne Fortbildungen – sowie die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu sammeln: „Wir lassen die Leute mit Mensch-Maschine-Kooperationen experimentieren. Sie sollen selbst herausfinden, welche Rolle der Mensch einnehmen könnte, wenn er mit einem Roboter zusammenarbeitet.“

Und wie findet Riek die Startups mit den neuen Technologien? „Zunächst muss ich mein Problem  so beschreiben, dass sie mich finden“, sagt Riek. „Dann kann ich es in Startup-Ökosystem wie einen Accelerator reingeben.“ Darüber würden Startups mit Festo in Kontakt treten. „Für Einsteiger bietet sich auch ein Berater als Mittelsmann an, oder Startup-Plattformen.“ Die Plattform Startup-Radar des VDMA etwa sei eine gute Quelle für Maschinenbauer. 

Dass Mittelständler attraktive Kunden für die jungen Unternehmen sind, davon ist Riek überzeugt: „Startups brauchen verlässliche Partner“, sagt er. Der Handschlag eines mittelständischen Geschäftsführers sei für sie mitunter mehr wert als die Kooperation mit einer Abteilung in einem Großkonzern, die keine verbindliche Aussage machen kann. „Give and take – wer das beachtet, arbeitet gut mit Startups zusammen. Kleinen Firmen empfehle ich das ganz dringend.“ 


NACHGEFRAGT

Erste Schritte

Die Berater von Hyve unterstützen Mittelständler dabei, KI ins Unternehmen zu holen. Geschäftsführer Michael Bartl erklärt im Interview, wie der Einstieg gelingt. 

Wie kann ein kleiner Betrieb oder ein mittelständisches Unternehmen erste Erfahrungen mit KI sammeln?

Man muss vorab keine holistische KI-Strategie entwickelt haben, um mit den ersten Schritten zu beginnen. Kleine Experimente, Pilotprojekte und Initiativen von Mitarbeitern sind auf alle Fälle ein richtiger Weg. 

Welche Bereiche eignen sich für den Einstieg?

Am besten sind Bereiche geeignet, in denen bereits gelabelte Daten zur Anwendung von automatisierten Klassifizierungsverfahren vorliegen und nicht erst neu erhoben werden müssen. Ob diese Daten einen Bezug zu Produktion, Marketing, Forschung und Entwicklung, Customer Service, Buchhaltung, oder anderen inhaltlichen Bereichen haben ist zunächst unerheblich.
 
Was gilt es, bei den ersten Schritten zu beachten?

In den allermeisten Fällen ist die technologische Kompetenz, um Machine-Learning oder Deep-Learning-Verfahren anzuwenden, noch nicht verankert. Das heißt, man muss sich diese Fähigkeiten von außen in das Unternehmen holen. Für die ersten experimentellen Schritte sind die Zusammenarbeit mit Start-​ups, KI-Labs, Universitäten oder auch interaktive Seminarformate ein guter Weg, bevor man zu größeren Projekten übergeht.


GLOSSAR

KI – was ist das eigentlich?
Die wichtigsten Begriffe, verständlich erklärt:

Künstliche Intelligenz (KI)
Teilgebiet der Informatik, bei dem es darum geht, Maschinen mit Fähigkeiten auszustatten, die denen des Menschen ähneln – etwa Probleme lösen oder eigenständig lernen. 

Starke und schwache KI
Eine KI wäre stark, wenn sie menschliche Intelligenz in Gänze ersetzen oder übertreffen würde. Schwache KI bedeutet, dass nur einzelne menschliche Fähigkeiten übernommen werden, das Erkennen von Sprache beispielsweise. 

Maschinelles Lernen
Eine System/eine Maschine generiert künstliches Wissen aus Erfahrung.

Künstliche neuronale Netze
Computersysteme, die der Nervenzellvernetzung des Gehirns nachempfunden sind. Künstliche Neuronen (Informationsverarbeitungseinheiten) sind schichtweise in einer Netzarchitektur angeordnet.


Quelle: Creditreform Magazin
Text: Tanja Könemann



Creditreform Villingen-Schwenningen