Creditreform Magazin

Ein Virus als Turbo der Digitalisierung

Während das echte Leben stillsteht, lebt das virtuelle auf. Die Corona-Krise treibt die Digitalisierung in unerwartetem Ausmaß voran. Homeoffice, New Work, digitale Geschäftsmodelle, was bleibt davon? Diese Projekte und Experten wagen einen Blick in die Zukunft.

Peter Schmahl ist froh, dass er seine Hausaufgaben gemacht hat. Schon im April 2019. Schmahl ist IT-Leiter bei Schott Music und verantwortlich dafür, dass die knapp 200 Mitarbeiter des 250 Jahre alten Musikverlags arbeitsfähig sind und bleiben. Natürlich konnte er vor einem Jahr nicht ahnen, dass ein Virus die deutsche Volkswirtschaft lahmlegt und ein großer Teil der Bürger wochenlang im Homeoffice sitzt, als er begann, die IT-Infrastruktur von Schott Music komplett neu aufzusetzen. Seit einigen Wochen aber zahlen sich die Mühe und die Überzeugungsarbeit aus, die er dabei geleistet hat. „Wir haben so ziemlich alles in die Cloud verlagert – und das ist uns in der Corona-Krise richtig gut bekommen“, sagt Schmahl. Denn seit dem 23. März sind auch die zwei Hauptstandorte von Schott Music in Mainz menschenleer. Bis auf die Mitarbeiter in der Logistik, die Notenhefte und Bücher in alle Welt versenden, arbeiten seitdem alle im Homeoffice – und sie stellen fest: Nicht nur die Technik funktioniert wie versprochen, auch die damit einhergehenden neuen Arbeitsweisen greifen. „Wir haben zwar schon einen Großteil unserer Produkte und unseren Direktvertrieb digitalisiert“, sagt Schmahl. „Aber was digitales und kollaboratives Arbeiten angeht, waren wir noch nicht so weit, wie wir als Medienhaus hätten sein sollen.“ Erst in den vergangenen Wochen, in der durch die Corona-Krise erzwungenen, virtuellen Zusammenarbeit, beginnen die Mitarbeiter die Möglichkeiten intensiver zu nutzen und zu schätzen.

Großes, unfreiwilliges Experiment

So oder so ähnlich geht es aktuell den meisten Bürokräften, Ingenieuren, Anwälten, Marketingexperten, Einkäufern, Vertriebsmitarbeitern, Programmierern und, und, und. Sie alle sind Teil eines unfreiwilligen Experiments, ob und wie eine vor allem digitale Wirtschaft funktionieren kann. Sicher werden Menschen nach der Corona-Krise auch wieder gerne im Büro arbeiten, sich an Konferenztischen gegenübersitzen und beruflich verreisen. Und doch erleben aktuell Millionen von Menschen, wie sich der Sprung in die digitale Zukunft anfühlen könnte.

Vodafone-Chef Hannes Ametsreiter hat den krisenbedingten Feldversuch Ende März bei einem virtuellen Treffen des Münchner Startup-Festivals „Bits & Pretzels“ in Zahlen gefasst. Anrufe seien in Deutschland um 50 Prozent gestiegen, der Internet-Datenverkehr um 40 Prozent. „Ein Großteil im deutschen Mittelstand lernt diese Möglichkeiten gerade kennen – und vielleicht schätzen“, sagt Ralf Ebbinghaus, Geschäftsführer von Swyx, einem Anbieter von IP-Kommunikationslösungen. Das Unternehmen hat sich auf sogenannte Unified Communications spezialisiert, also die Zusammenführung aller Kommunikationsmöglichkeiten – Telefonie, Chat, Video – in einer Anwendung. Zu Beginn der Corona-Krise hatte Swyx angeboten, für Mittelständler 100.000 kostenlose Videokonferenzräume einzurichten. „Wir wollen helfen. Aber natürlich wollen wir damit auch bei Unternehmen mit unseren flexiblen Cloud-Services und Lösungen für eine standortunabhängige Zusammenarbeit Fuß fassen“, macht Ebbinghaus keinen Hehl aus seinen Absichten. Knapp 10.000 Videokonferenzräume haben er und sein Team seit Mitte März eingerichtet – und beobachtet, „dass deren Nutzung nach ein, zwei Wochen der Gewöhnung bereits selbstverständlich ist“.

Auch Jörg Frey, Mitglied der Geschäftsführung von Haufe-Lexware hofft, „dass sich digitale Tools und Prozesse in der jetzigen Situation als derart hilfreich erweisen, dass die Digitalisierung dann endgültig auch bei Kleinunternehmern und Selbstständigen Fahrt aufnimmt“. Seine Unternehmensgruppe entwickelt unter anderem Software für Buchhaltung, Lohnkosten und Warenwirtschaft – und bietet ebenfalls schnelle und unkomplizierte Krisenhilfe an, etwa in Webinaren über Kurzarbeit, staatliche Hilfen und Entgeltfortzahlung sowie mit Softwaretools, die sechs Monate lang kostenlos genutzt werden dürfen. Die Resonanz ist gewaltig, Tausende Unternehmen nutzten die Hilfen bereits. Jörg Frey beobachtet dennoch eine große Schere. „Es gibt einerseits sehr fortschrittliche Betriebe, die die Chancen der Digitalisierung erkannt und ergriffen haben. Noch immer den Löwenanteil bildet aber die andere Seite. Die Unternehmen, die zögern und vor der Digitalisierung zurückschrecken.“ Und die nun gezwungen werden, ihre Zurückhaltung aufzugeben.


Schnelle Hilfe aus dem Netz

Mittelstand-4.0-Kompetenzzentren
Der Förderschwerpunkt Mittelstand-Digital des Bundeswirtschaftsministeriums soll kleine und mittlere Unternehmen bei der Digitalisierung unterstützen. 26 Mittelstand-4.0-Kompetenzzentren in ganz Deutschland zu Themenbereichen wie Logistik, Handel, Bildung, Kommunikation, Fertigung etc. fungieren als Anlaufstelle für Beratung und Expertise. Zahlreiche Hilfestellungen gibt es hier: mittelstand-digital.de

Internetverbände
Sowohl der Bitkom als auch der eco-Verband der Internetwirtschaft unterstützen in Digitalisierungsfragen. Der Bitkom hat jüngst einen Leitfaden zur Digitalisierung von Geschäftsprozessen herausgegeben, er kann hier kostenlos heruntergeladen werden: bit.ly/2yLssAT. Der eco-Verband bietet im zweiwöchentlichen Rhythmus unter eco.de/akademie/webinare virtuelle Fortbildungen zu Themen wie Internet der Dinge, Cybersicherheit und Künstlicher Intelligenz an.

RKW Kompetenzzentrum
Das RKW Kompetenzzentrum hat einen Leitfaden zur Geschäftsmodellentwicklung für Führungskräfte mittelständischer Unternehmen entwickelt. Zum kostenlosen Download geht es hier: bit.ly/2JMz1VR


Mehr als nur Homeoffice

Die große Frage ist: Was bleibt nach der Krise von diesem Schwung übrig? „Die Menschen erleben jetzt ganz neue Möglichkeiten und damit wächst der Wunsch, diese weiterhin beibehalten zu können“, ist sich Oliver Blüher, Deutschlandchef des Business-Messengerdienstes Slack, sicher. Auf der Plattform können Nutzer in Themenkanälen (Channels) zusammenarbeiten, zu zweit, in Gruppen und mit externen Teilnehmern chatten sowie Dateien teilen, telefonieren und per Video konferieren. Weltweit konnte Slack vom 1. Februar bis zum 25. März 9.000 zahlende Kunden hinzugewinnen – 80 Prozent mehr als sonst. Einige Grundfunktionen können kostenlos genutzt werden: „Für diese Gratisversion verzeichnen wir Hunderte Prozent Wachstum“, so Blüher. 


„Der Wunsch wächst, die neuen Möglichkeiten weiterhin beibehalten zu können.“
Oliver Blüher, Deutschlandchef des Business-Messengerdienstes Slack


Aber Slack kann noch mehr. Während sich die neuen Nutzer meist auf Funktionen wie Chats, Channels und Calls konzentrieren, bauen Fortgeschrittene damit Workflows und Bots. „Etliche unserer Kunden verfügen über eine dreistellige Anzahl solcher Bots“, sagt Blüher. Er berichtet von einem Mittelständler aus München, der den Dienst zum Monitoring von IoT-Devices nutzt. „300 Ingenieure haben mit Slack 1,2 Millionen Fahrstühle im Blick und sehen, wenn Daten von den Soll-Standards abweichen.“

Anwendungsbeispiele wie diese deuten an, wohin die Reise geht. Für Unternehmen steht längst nicht mehr nur die Digitalisierung von Prozessen und Arbeitsweisen im Vordergrund. Es geht auch darum, neue Dienste und Services anzubieten – und das eigene Geschäftsmodell infrage zu stellen.

IT wie Strom aus der Steckdose

So wie Paul Martin. Er ist Gründer und Geschäftsführer von Vertical. Das IT-Unternehmen aus Sulzbach im Taunus hat sich schon vor knapp vier Jahren neu erfunden. „Bis 2016 haben wir noch als klassischer IT-Dienstleister gearbeitet und überwiegend Kunden und Projekte hier in der Region betreut“, sagt Martin. Mithilfe der immer weiter zunehmenden Möglichkeiten, IT-Services auch cloudbasiert anbieten zu können, verfolgen Martin und sein Mitgründer Alexandre Seifert seit vier Jahren einen anderen Ansatz. „Die Idee ist, dass wir die IT zur Commodity, also zur Ware, machen“, erklärt der 34-Jährige. „Sie soll so selbstverständlich sein wie Strom aus der Steckdose.“ Über eine Web-Applikation können Unternehmenskunden konfigurieren, wie Abteilungen und Mitarbeiter sowie Büro- und Konferenzräume mit Hardware, Applikationen und Kollaborationstools ausgestattet werden sollen und auf welchen Cloudservern Daten gespeichert werden. Für das gesamte Paket zahlen Kunden schließlich eine monatliche Miete: Endgeräte, Services und Support inklusive. Gut 100 Unternehmen betreuen die 90 Vertical-Mitarbeiter inzwischen, darunter auch Peter Schmahl von Schott Music. Und sie erleben aktuell einen regelrechten Run. Mehr als 50 Anfragen erreichten Martin innerhalb einer Woche. „Vielfach ging es darum, erst mal Pflaster zu kleben und die Unternehmen schnell arbeitsfähig zu machen“, sagt er. Einen weiteren Schub erhofft er sich für die Zeit nach der Krise, „wenn die Verantwortlichen erkennen, welchen Nachholbedarf sie haben“.

Das Beispiel Vertical belegt, was Ökonomen bereits in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 beobachtet haben. Hoch digitalisierte Unternehmen waren nach der Lehman-Pleite und ihren Folgen weniger betroffen als gering digitalisierte. Laut einer Studie des ZEW Mannheim haben sich Produktivitätsniveau und -wachstum bei diesen Unternehmen kaum verringert (-0,5 Prozentpunkte), während sie bei gering digitalisierten Unternehmen stark zurückgingen (-2,3 Prozentpunkte). Gleichzeitig waren hoch digitalisierte Unternehmen auch erfolgreicher darin, Prozessinnovationen umzusetzen und Kosten einzusparen. „Wir haben die Daten so interpretiert, dass Unternehmen, die digital aufgestellt sind, ihre Prozesse besser anpassen und ihre Produktion und Arbeitsabläufe schneller verändern können“, sagt Irene Bertschek, Leiterin des Forschungsbereichs Digitale Ökonomie am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. „Dadurch sind sie eher in der Lage, schwere Krisen zu meistern.“ Diesen Vorsprung könnten all jene, die erst seit wenigen Wochen versuchen, ihr Geschäft ins Digitalzeitalter zu retten, nicht so leicht aufholen. Hoffnungslos seien ihre Unterfangen aber nicht, so die Ökonomin. „Jemand, der vorher nur analog verkauft hat, wird sich schwertun, innerhalb von wenigen Wochen einen eigenen Onlineshop aufzusetzen. Aber er hat immerhin noch die Möglichkeit, sich der großen digitalen Plattformen zu bedienen. Das geht sehr schnell, weil man damit auf bestehende Tools aufsetzen kann.“

Krise befeuert Plattformökonomie

Auch anderen lokalen Händlern und Dienstleistern helfen digitale Plattformen dabei, dass Kunden sie nicht vergessen. Auf überregionalen Webseiten wie supportyourlocal.online, stammi.de und kaufnebenan.de können sie Gutscheine von Friseurbetrieben, Cafés und Restaurants erwerben. Zahlreiche regionale Zusammenschlüsse ermöglichen Ähnliches. Unter wirsindborkum.de etwa bieten Gastronomen, Hoteliers und andere Geschäfte ihre Dienste per Gutschein für den Inselurlaub nach der Krise an. Andere Plattformen mit thematischen Schwerpunkten wurden zur Unterstützung von lokalen Bands und Tattoostudios ins Leben gerufen.

„Was wir sehen, sind zahlreiche Unterstützungsnetzwerke und viele Initiativen“, sagt Dara Kossok-Spieß, Referentin für Netzpolitik und Digitalisierung beim Handelsverband Deutschland (HDE). Auch der Handel selbst reagiere innovativ und treibe die Digitalisierung voran: „Von den kleinen und mittleren Unternehmen bauen zwei Drittel ihre digitalen Vertriebswege aus.“ Dabei setzen Händler verstärkt auf Plattformen. Einen eigenen Onlineshop zu erstellen, sei aufwendig; wer über ein funktionierendes Warenwirtschaftssystem verfüge, sei mit einer Plattform einfach schneller, sagt Kossok-Spieß. Zu den begehrtesten für B2C-Händler zählen laut HDE Amazon Marketplace, Ebay und Real. Im Bereich B2B setzten Händler vermehrt auf Alibaba. „Die Plattformökonomie wird das Vehikel sein, das die Krise nicht nur übersteht“, sagt Kossok-Spieß. „Plattformanbieter werden stärker hinausgehen, als sie hineingegangen sind.“


„Was wir sehen, sind zahlreiche Unterstützungsnetzwerke und viele Initiativen.“
Dara Kossok-Spiess, Referentin beim Handelsverband Deutschland


Reichweite ja, Kundenbindung nein

Was keine Plattform kann: den persönlichen Kontakt zum Kunden ersetzen. Um während der Krise nicht in Vergessenheit zu geraten, haben die Winzer des Vereins Moselwein e.V. erfolgreich Social Media und Youtube für sich entdeckt. Unter den Hashtags #stayathome und #drinkwine bitten sie Kunden zur virtuellen Weinprobe. Diese bestellen ein bestimmtes Probierpaket und erhalten es wenige Tage später per Post zugestellt. Ist die erste Flasche geöffnet, kommentiert ein Winzer die Tropfen per Videobotschaft oder sogar zu einer verabredeten Uhrzeit per Livestream. „Aktionen wie diese haben gleich zwei Effekte“, weiß Irene Bertschek. „Zum einen erzielen Händler damit auch in der Krise gewisse Erlöse. Viel wichtiger ist aber, dass sie gegenüber ihren Kunden sichtbar bleiben.“

Händler, die schon vor Corona auf Social Media gesetzt haben, profitieren jetzt. Der Goldigshop ist eine Modeboutique in Hamburg und Köln, auf Instagram hat er mehr als 12.000 Abonnenten. Jeden Tag postet Shopinhaberin Anna Angelina Wolfers dort Stücke aus ihrem Sortiment und gibt ihren Kunden das Gefühl, Teil einer Community zu sein: „Habe mich gerade erst einmal durch eure lieben Mails und Nachrichten gelesen. Danke euch, man fühlt sich gleich viel weniger allein“, schreibt sie. Bestellt werden kann per E-Mail, die Anleitung dazu erfolgt via Instagram. Bezahlt wird natürlich online.

„In der Krise sind kontaktloses Bezahlen im Laden oder Online-Bezahlverfahren häufig die einzige Möglichkeit“, sagt Torsten Daenert, Managing Director im Commerzbank Privatkundengeschäft. So etablierten sich diese Verfahren auch in Deutschland bei weiteren Bevöl­kerungsgruppen. „Das wird nach der Krise sicherlich nicht wieder anders“, prophezeit Daenert, „und das digitale Bezahlen wird so vielleicht das ‚New Normal‘“.


„Das Netz ist die Infrastruktur unseres künftigen Wohlstands“

Karl-Heinz Land ist Gründer der mehrfach ausgezeichneten Digitalberatung Neuland. Der ehemalige Topmanager von IT-Pionieren wie Oracle spricht im Interview über die Arbeitswelt nach der Corona-Krise.

Glauben Sie, dass bestimmte stationäre Angebote nach der Krise überflüssig sind?
Es wird nicht alles digital werden und alles Stationäre verschwinden. Ich bin totaler Fan des hybriden Geschäftsmodells – zum Beispiel ein lokales Elektronikgeschäft, das zusätzlich zum stationären Handel die Möglichkeit anbietet, telefonisch zu bestellen, und dabei genauso gut berät wie im Laden.  

Welche Aspekte des Digitalisierungsschubs werden sich langfristig durchsetzen?
Digitalisieren heißt vernetzen, aus hierarchischen Strukturen agile Netzwerkorganisation machen. Dazu müssen alle Beteiligten Zugang zu allen Informationen haben. Ich glaube, dass das jetzt in Bewegung gerät. Die Gewinner der Krise werden das in ihre Unternehmens-DNA einflechten. Bei den Verlierern befürchte ich, dass es sie sowieso nicht mehr lange geben wird.

Ist die Digitalisierung wirklich überall das Allheilmittel?
Natürlich nicht. Manchmal muss man auch Dinge in der realen Welt machen: Ein Eis kann man nur in der normalen Welt essen. Aber wie wichtig Digitalisierung ist, wird jetzt verstanden. Standorte, an denen es keine Glasfaserverkabelung gibt, geraten ins Hintertreffen. Die Menschen beginnen, zu verstehen, dass das Netz die Infrastruktur unseres künftigen Wohlstands ist.


Quelle: Magazin "Creditreform"

Text: Tanja Könemann und Christian Raschke



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