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Fieberträume statt Medizin für Europas „kränksten Mann“

Mitte des 19. Jahrhunderts war die (spätere) Türkei als „kranker Mann“ am Bosporus bezeichnet worden. Das Osmanische Reich war einmal eine Großmacht gewesen, die nun den Anschluss verpasst hatte und von den europäischen Staaten bedrängt wurde.

Karikaturen aus der damaligen Zeit zeigen den Spott gegenüber einem Land, das seinen Einfluss verloren hatte. Nun ist wieder von einem kranken Mann die Rede. Der kranke Mann Europas ist Deutschland. Die immer noch stärkste Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent, die 2022 ein Bruttoinlandsprodukt von 3,87 Bio. Euro erreichte, befindet sich in der Krise. Nach zwei Quartalen vor und nach der Jahreswende, als das BIP schrumpfte wurde nun für das zweite Quartal 2023 eine Stagnation gemeldet.

Deutsche Null

Dieses Null-Wachstum ist sicher kein Erfolg, vergleicht man den Wert mit Europa und der Eurozone insgesamt. Dabei muss man nicht Irland sehen, das aufgrund des Standorts internationaler Konzerne die anderen Länder abhängt. So haben etwa Frankreich oder Spanien durchaus wieder positive Zahlen beim BIP erreicht. Wie das europäische statistische Amt zum Monatsultimo Juli mitteilte, legte die Wirtschaftsleistung der 19 Eurozonen-Staaten um 0,3 Prozent zu – Deutschland blieb zurück. Besonders fatal aber wirkt sich aus, dass es hierzulande auch zu einem Stimmungswechsel gekommen ist. Es fehlt die Zuversicht auch in Branchen oder Unternehmen, denen es wirtschaftlich (noch) gut geht. Selbst bei den Zahlen zur Inflation einzelner Länder ist Deutschland, bisher immer als ein Hort der Stabilität angesehen, wenn überhaupt eher im Mittelfeld angesiedelt. Wir befinden uns in einer Stagflation. Die Produktion kommt nicht voran, aber die Preise steigen – eine gefährliche Gemengelage.

Optimismus kommt abhanden

Die Creditreform Wirtschaftsforschung hatte bereits im Frühjahr 2023 bei der traditionellen Befragung des Mittelstandes einen wachsenden Pessimismus der befragten Betriebe feststellen müssen. So war gerade der Bau etwa, bisher scheinbar unbehelligt von den Verwerfungen durch Corona und Krieg, deutlich zurückhaltender geworden bei seinen Prognosen zu Umsätzen und Ertrag. Diese Einschätzungen hat die KfW nun bestätigt: „Der Einstieg in die zweite Hälfte des Jahres ist stimmungsmäßig misslungen. Das mittelständische Geschäftsklima sank im Juli gegenüber Juni deutlich um 4,4 Zähler auf jetzt minus 16,1 Saldenpunkte. Das ist der niedrigste Wert des Klimaindikators seit November letzten Jahres und bereits der dritte Rückgang in Folge.“ Immerhin scheinen Großunternehmen noch positiver zu denken, wenn hier bei den Geschäftserwartungen sogar ein leichtes Plus von 1,8 Zählern zu registrieren war. Dennoch bleibt auch hier die Misere bestehen – der Wert bei den Erwartungen liegt weiterhin tief im roten Bereich mit minus 33 Punkten.

Noch stärker am aktuellen Rand als die Förderbank agiert die Befragung des ifo Instituts und der daraus errechnete Geschäftsklimaindex. Auch hier gibt es nur schlechte Nachrichten: Der ifo Geschäftsklimaindex ist im Juli auf 87,3 Punkte gefallen, während er im Juni noch bei 88,6 Punkten lag – ein fataler dritter Rückgang in Folge. Der Chef des ifo Instituts, Clemens Fuest, führte anlässlich der Vorstellung der jüngsten Ergebnisse aus, dass er für Deutschland eine Mischung aus kurzfristigen Problemen und längerfristigen Herausforderungen sehe. Alle Länder der Eurozone sehen sich mit den steigenden Zinsen konfrontiert, Deutschland aber leider am stärksten unter der Energieknappheit und dem Fachkräftemangel. Fuest hielt nicht hinter dem Berg, seine Kritik ging an die Regierungspolitik, wenn er darauf hinwies, dass man sich entschieden habe, das Stromangebot zu begrenzen. Nun ist der Umgang im Zuge des Umbaus auf erneuerbare Ressourcen tatsächlich kein Meisterstück. Atom- und Kohleausstieg versucht man bezahlbar zu machen, indem man der teuren Elektrizität mit einem besonderen Industriestrompreis begegnet. Der „Komödienstadl“ um die Einführung eines Heizungsgesetzes zeigt den Dilettantismus angesichts großer Herausforderungen. Da reicht nicht der Hinweis darauf, dass Spanien mit einem Wachstum von 0,4 Prozent beim BIP auch weniger vom Energiepreis abhänge als Deutschland.

Unternehmer werden laut

Angesichts der Schwierigkeiten baut sich Kritik gegenüber der Politik nicht nur aus dem akademischen Lager auf. Der Präsident des Chemieverbandes, Dr. Markus Steilemann, fasst die aktuelle Situation als „Klumpenrisiko“ zusammen. Er nennt den Fachkräftemangel, die schleppende Digitalisierung und die überbordende Bürokratie, die neben den Energiepreissteigerungen, den Steuern und der schlechten Infrastruktur in Deutschland stehen. Wenn die Regierung nicht handelt, befürchtet Steilemann, dass Deutschland dann zum „Abstiegskandidaten“ werden könnte. Kritik an der Ampelkoalition kommt auch vom Arbeitgeberpräsidenten Dulger, der Deutschland mit dem sagenhaften Riesen Gulliver vergleicht, der eigentlich stark, von vielen bürokratischen Hemmnissen aber behindert sei. Dabei ist allerdings für die Unternehmen durchaus anzumerken, dass sie etwa bei der Digitalisierung, die Autoindustrie bei der Elektromobilität und bei der Kundenorientierung, manches verschleppt haben. Tatsächlich wird aktuell spürbar, dass Deutschland einige Entwicklungen, die andere Länder schneller vorangetrieben haben, geradezu verschlafen hat. Vor allem ist es die Mischung aus idealistischen Wünschen nach Klimaschutz und umfassender sozialer Absicherung auf der einen Seite und ein Defizit an Pragmatismus, Leistungswille und Nüchternheit auf der anderen Seite. Nun erreichen wir den Punkt, an dem nicht mehr alles mit Geld zuzuwerfen ist. Es fehlen neue Leitlinien, die klare Perspektiven für die Zukunft der Wirtschaft in Deutschland aufzeigen. Orientieren muss sich die Politik stärker an der Machbarkeit als an den Wünschen.

Quellen: Deutschlandfunk, ifo Institut, KfW



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