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Zeitenwende im stationären Einzelhandel?
Der Umsatz mit Kleidung wuchs im ersten Halbjahr 2023 um satte neun Prozent – doch zugleich steckt der stationäre Fachhandel in der Krise und macht mit spektakulären Insolvenzen Schlagzeilen. Über Herausforderungen und Chancen einer sich wandelnden Branche.
Peek & Cloppenburg, Gerry Weber, Reno, Peter Hahn, Salamander, Görtz oder Signa Sports United – die jüngste Welle von Insolvenzen im Modehandel erregt Aufsehen, weil sie bekannte Unternehmen betrifft. Doch die großen, prominenten Namen sind nur die Spitze des Eisbergs. Laut einem Bericht des Fachmagazins „Textilwirtschaft“ sind im Jahr 2023 bereits 92 Modehäuser in die Pleite gerutscht. Eine Zahl, die wahrscheinlich noch steigen wird.
Denn laut Creditreform Geschäftsklimaindex war die allgemeine Wirtschaftslage im Herbst 2023 so kritisch wie seit dem Höhepunkt der Corona-Krise nicht mehr. Jeder zehnte Einzelhändler sieht sich einer Umfrage des Ifo-Instituts zufolge durch die allgemeine Kaufzurückhaltung der Verbraucher in seiner Existenz bedroht. Die Krise ergibt sich aus den Folgen von Rezession und Inflation, die sowohl Verbraucher als auch Unternehmen teils massiv belasten. Der Einzelhandel spürt zusätzlichen Druck durch massive Kostensteigerungen bei Mieten sowie steigende Personal- und Energiekosten.
Corona wirkt nach
Doch sind es nicht nur die Auswirkungen aktueller Krisen, die den Handel herausfordern. Auch die Belastungen der Corona-Pandemie wirken nach. „Maßnahmen zur Begrenzung der Pandemie, wie beispielsweise Geschäftsschließungen, haben besonders den saisonsensiblen stationären Textileinzelhandel getroffen“, erklärt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform. Gemeinsam mit dem Handelsblatt Research Institut hat Creditreform einen exklusiven Report zur Situation im Einzelhandel erstellt.
Zwar ist der Umsatz mit Mode laut Statistischem Bundesamt im ersten Halbjahr 2023 um 9,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gewachsen und lag nach Berechnungen des Handelsverbands Textil Schuhe Lederwaren (BTE) beim Kleidungs- und Textileinzelhandel im Jahr 2022 bei rund 70 Milliarden Euro – und damit leicht über dem Niveau des Vor-Corona-Jahres 2019 –, doch als Folge der pandemiebedingten Zwangsschließungen ist der Anteil der online vertriebenen Ware in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen: im Vergleich zu 2019 um ein Drittel auf rund 19 Milliarden Euro.
Dieses Wachstum geht an vielen ursprünglich stationären Modehändlern vorbei, deren Umsätze 2022 noch immer 6,5 Prozent unter der Marke von 2019 lagen. Sie tun sich oftmals schwer mit der Umstellung auf den Onlinevertrieb: Nach Angaben des Handelsverbands Deutschland (HDE) erwirtschafteten diese Fachhändler 2022 nur elf Prozent ihres Umsatzes online – weit weniger als der Onlineanteil am gesamten Fashionumsatz.
Strukturelle Probleme werden deutlicher sichtbar
Die Herausforderungen des Bekleidungshandels allein auf die außergewöhnliche Verkettung von Krisen zurückzuführen, greift indes zu kurz. Die Krisensituation verschärft lediglich eine Reihe von bestehenden strukturellen Problemen. So haben Lockdowns und andere Einschränkungen Kundinnen und Kunden verstärkt zum Einkauf im Netz motiviert und so den Druck auf Modehäuser erhöht. Neu ist der Trend zum Onlinekauf allerdings nicht. Händler hätten sich auch vor der Pandemie darauf einstellen können und sollen, so das Expertenurteil. Vielfach wurden die Zeichen der Zeit ignoriert.
Auch den Attraktivitätsverlust der Innenstädte als klassische Standorte des stationären Bekleidungshandels haben Pandemie und allgemeine Kaufzurückhaltung beschleunigt, jedoch nicht ursprünglich verursacht. Daten des Analyseanbieters „Experian“ zeigen, dass der Besucherstrom in stationären deutschen Einzelhandelsgeschäften zwischen 2008 und 2014 um fast ein Drittel zurückgegangen ist. Der Kundenschwund in den Innenstädten ist also kein neues Phänomen.
Die Abnahme der Kundenzahlen läuft parallel zur steigenden Bedeutung des E-Commerce: Je mehr Konsumenten online einkaufen, desto stärker sinkt die Passantenfrequenz in den Innenstädten. Dies führt zu weiteren Ladenschließungen, einer abnehmenden Attraktivität der Innenstädte und letztlich zu noch geringeren Besucherzahlen – eine klassische Abwärtsspirale.
Folgenschwere „Flaggschiff-Insolvenzen“
Der insolvenzbedingte Rückzug von Großinvestor René Benko aus Einzelhandels-Großprojekten mit „Flaggschiff-Charakter“ könnte insofern gravierende Folgen nach sich ziehen. Da viele Projekte des Immobilienentwicklers Mixed-Use-Konzepte vorsahen, gehen den betroffenen Innenstädten und Stadtquartieren nun nicht nur Verkaufsflächen verloren, sondern auch Gastronomie-Angebote und andere belebende Elemente. Überdies drohen die Immobilien zu Bauruinen zu werden.
Gerade solche Leerstände sind es, die potenzielle Kunden des innerstädtischen Modehandels laut einer Befragung des BTE abschrecken. Ungenutzte Immobilien tragen für die Befragten zu einem unattraktiven Erscheinungsbild der Innenstädte insgesamt bei, ebenso wie ein schlechter baulicher Zustand, Ramschläden, wenig Grün oder Müll und Dreck. Mehr als die Hälfte der insgesamt 4.170 Befragten stört sich an solchen Gegebenheiten.
Ein attraktives Stadtzentrum dagegen, so die vom HDE durchgeführte „Deutschlandstudie Innenstadt“, zeichnet sich aus Sicht von Handelskunden durch klimagerecht gestaltete Ruhezonen, Grünflächen, ein gepflegtes Stadtbild und eine ausreichende Zahl öffentlicher Toiletten aus. Vom innerstädtischen Modehandel selbst wünschen sich die Befragten etwa mehr Events, schönere Läden, eine individuelle Stilberatung, die bessere Verknüpfung von Offline- und Online-Angeboten, attraktivere Sortimente sowie mehr Sitzgelegenheiten.
Investieren, aber wie?
Städtebauliche Maßnahmen zur Verbesserung der Lage des Handels sind jedoch kurzfristig nicht umsetzbar, denn die Entwicklung von Stadtzentren ist Teil langwieriger kommunaler Förder-, Bau- und Planungsprozesse. Die dabei getroffenen Entscheidungen entziehen sich zudem dem direkten Einfluss der ansässigen Händler.
Und auch Veränderungen am eigenen Laden oder Geschäftsmodell fallen Textil- und Schuhhändlern schwer in einer Zeit, in der die Umsätze oftmals nicht ausreichen, um Kostensteigerungen in den Bereichen Energie, Personal oder Mieten auszugleichen. Seien es Investitionen in Ladengestaltung, Digitalisierung oder Nachhaltigkeit – insbesondere kleinere Händler sind oft gezwungen, solche wichtigen Projekte auf unbestimmte Zeit zu verschieben. „Dabei wären gerade jetzt Investitionen nötig, um sich für die Zukunft fit zu machen“, betont Creditreform Wirtschaftsexperte Hantzsch.
Derweil erhöhen Branchengrößen wie „Otto“ oder „Amazon“, die neben dem eigenen Onlinegeschäft auch die großen Marktplätze für andere Unternehmen zur Verfügung stellen, den Druck zur permanenten Optimierung und Transformation. Die dominante Rolle dieser Branchengiganten wird durch die Einführung neuer Rabattaktionen im Onlinehandel, wie Singles Day oder Black Friday, deutlich. Der stationäre Handel muss diese Aktionen zumindest teilweise übernehmen, obwohl er bei den Preisnachlässen kaum mithalten kann. Gleichzeitig büßen traditionelle Saisonabverkäufe im stationären Handel, wie Sommer- und Winterschlussverkäufe, an Bedeutung ein.
Der Transformationsdruck bleibt hoch
Experten erwarten, dass die Situation im stationären Modefachhandel auf mittlere Sicht herausfordernd bleiben wird. „Der Transformationsdruck und die schwierigen Bedingungen werden weitere Opfer unter den Händlern fordern, von der inhabergeführten Boutique bis zum großen Handelshaus“, prognostiziert Hantzsch.
Dass eine Insolvenz durchaus Chancen eröffnen kann, illustriert indes das Beispiel von Bonita, einer Handelskette für Damenmode: Nach fortwährenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten hatte Geschäftsführer Karsten Oberheide die Handelskette 2020 von Tom Tailor übernommen, gefolgt von einer Insolvenz in Eigenverwaltung im Jahr 2021. Seitdem konnte das Unternehmen seinen Umsatz kontinuierlich steigern. Bonita sei schneller als erwartet wieder auf Wachstumskurs sagte Oberheide dem Magazin „WirtschaftsWoche“. Das Unternehmen plant sogar eine erneute Expansion.
Ebenfalls auf stationärem Expansionskurs befindet sich die Textilhandelskette „C&A“, die laut einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur im Jahr 2024 100 neue Filialen in Europa eröffnen will – in Deutschland unter anderem in Hamburg, Berlin und Ostdeutschland. Der Fokus liegt auf innenstadtnahen Standorten und einem innovativen Ladenkonzept, das anstelle großer Warenberge auf Kleiderständern eine Auswahl an wenigen, gezielt ausgesuchten Stücken bietet. Kunden sollen sich beim Einkauf inspiriert fühlen und neue Outfits entdecken.
Nach Ansicht von Creditreform können auch andere vordergründig negative Entwicklungen, wie die zunehmende Anzahl an Leerständen, mittelfristig neue Chancen für den Handel in den Innenstädten bieten: Zum einen fallen die Ladenmieten, zum anderen halten sich dort, wo neuer Wohnraum entsteht, mehr Menschen in der Stadt auf, was die Anzahl potenzieller Kunden für den Handel erhöht. „Und wenn die Lieblingsboutique fußläufig von der Wohnung entfernt ist, entfällt der vermeintliche Vorteil des Onlinehandels“, sagt Hantzsch. Allen Herausforderungen zum Trotz gibt es also Lichtblicke, die auf eine Zukunft für den stationären Modehandel hoffen lassen – auch und gerade in den Innenstädten.